Persönliche Autorität wichtig

Kinder heute: willensstark oder schlecht erzogen?

Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen, einfach Stärke wünschen sich fast alle Eltern für ihre Kinder. Der Alltag mit durchsetzungswilligen kleinen Persönlichkeiten ist allerdings eine echte Herausforderung. Oder ist "willensstark" nur eine Beschönigung von "schlecht erzogen"?

Autor: Kathrin Wittwer

Selbstbewusst sein ja - starker Wille nein?

Trotziges Kind

Ein Kind weint und ist offensichtlich wütend

Foto: © iStock, Nadezhda1906

Ein starker Wille ...

Sie wissen nicht nur sehr genau, was sie wollen und was nicht – sie setzen dies auch konsequent durch: willensstarke Kinder. Dazu gehören ein gesundes Selbstbewusstsein, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, die Kraft, seine Ziele auch gegen Widerstände zu verfolgen. Welche Eltern wünschen sich das nicht für ihr Kind?

... ist bewundernswert ...

„Vom Individuum aus gesehen ist Willensstärke eine sehr positiv zu bewertende Eigenschaft“, sagt auch Mathias Voelchert, Gründer und Leiter von familylab Deutschland, dem hiesigen Zweig von Jesper Juuls Beratungs-Netzwerk. Und grundsätzlich ist in unserer Gesellschaft durchaus ein größeres Bewusstsein dafür da, ein Kind nicht auf Biegen und Brechen zum Gehorsam zu zwingen und in Strukturen einzupressen, sondern seine Individualität zu respektieren und zu schätzen.

… oft missverstanden ...

Auf viel Gegenliebe und uneingeschränktes Verständnis treffen willensstarke kleine Persönlichkeiten bei Erwachsenen trotzdem nicht. „Wir haben immer Probleme mit einem Kind, das seinen Willen auf seine Art und Weise durch aktives Handeln ausdrückt und konnotieren das schnell negativ“, so Mathias Voelchert. Ein Grund: Wir verstehen den Sinn des kindlichen Verhaltens nicht. Gängiges Beispiel: das sogenannte Trotzalter. „Das ist ja eine erste Selbstständigkeitsphase. Wir sagen aber: Das Kind ist im Trotz. Dabei individualisiert es sich gerade ein bisschen, kümmert sich mehr um sich. Das ist gesund und ganz normal.“

… und vor allem unbequem

Ein zweiter Grund: Die unbeugsamen Haltungen willensstarker Kinder sind unbequem und unpraktisch im Alltag und Eltern fühlen sich demgegenüber häufig hilflos. Ihnen stellt sich hier eine große Lernaufgabe, sagt Mathias Voelchert: „Für das Gegenüber ist Willensstärke eine Herausforderung, sich zu positionieren.“ Man kann sich das leicht machen: nachgeben, tun, was das Kind will. Oder schwer: permanent in Konfrontation gehen, das Kind zwingen, zu gehorchen. Oder man kann die Herausforderung annehmen und daran wachsen, dem kleinen Menschen, der sich einem anvertraut hat, ein echter Begleiter ins Leben zu werden.

Gut erzogen: Kontakt statt Konfrontation

„Ich hab zuerst gedacht, ich muss mit einem Zwei-, Dreijährigen irgendwelche Machtkämpfe führen“, erinnert sich Mathias Voelchert an die ersten Jahre mit seinem eigenen sehr willensstarken Sohn. „Aber das kann doch nicht sein, dass ein Vierzigjähriger mit einem Dreijährigen darum kämpft, ob das jetzt gemacht wird oder nicht.“

Die Wendung kam mit der Erkenntnis: „Du musst was bei dir als Vater ändern, damit es mit dem Kind leichter geht. Mit dem ganzen landläufigen Erziehungstheater, das ist, als würde man den Beziehungsstecker aus der Dose ziehen, man trennt die Verbindung und es bleibt nur: Du machst, was ich sage. Das ist furchtbar. Wichtig ist stattdessen, einen Kontakt herzustellen, indem man authentisch und klar ist. Das hat wunderbar funktioniert, war aber sehr viel Arbeit für mich.“

Eltern müssen ihre Autorität entwickeln ...

Grundsätzlich, so Voelchert, gilt das nach seiner Erfahrung für alle Familien, ob mit oder ohne besonders willensstarke Kinder: Kinder und Eltern sind gleichwürdig, aber die Eltern haben das Sagen. Wenn es Eltern gelingt, eine persönliche Autorität zu entwickeln, also ihre Kinder klar und deutlich ansprechen, so dass diese genau spüren, dass es hier und jetzt um sie geht, dass sie ernst genommen und respektiert werden, kooperieren sie aus freiem Willen, weil das einfach in ihrer Natur liegt. „Will man Kinder hingegen manipulieren, riechen sie das, da hab ich noch nicht mal Luft geholt“, weiß der Experte. Dann ist bei einem willensstarken Kind vehementer Gegenwind vorprogrammiert.

… und Kinder ihre Balance finden

Trotzdem müssen diese Kinder lernen, wann der Kampf sich lohnt und wann der sture Gegenmodus kontraproduktiv ist, betont der Familiencoach: „Wenn man nur das tut, was die anderen sagen, kommt man nicht weit. Wenn man nur das machen will, was man selber mag, hat man aber auch richtige Schwierigkeiten. Eltern müssen ihrem Kind vermitteln, dass es eine Wahl hat. Sie sollten ihm sagen, wie gut sie es finden, dass es kämpfen kann, aber auch, dass gegen jede Mauer zu rennen, nur weil eine da ist, dumm und schmerzhaft ist, sondern dass es lernen muss zu entscheiden, wann und wofür kämpfe ich und wofür nicht.“

Willensstark ist nicht schlecht erzogen

Das funktioniert nicht von heute auf morgen – es dauert gut 10 bis 15 Jahre, bis ein Kind sich selbst steuern kann – und braucht etliche sinnlose Kämpfe, die sehr anstrengend sein können. Fremde, die solche Situationen beobachten, stempeln schnell ab: Das Kind ist schlecht erzogen. Abgesehen davon, dass solche oberflächlichen Pauschalurteile über Momentaufnahmen ungerecht sind, gibt es hier jedoch entscheidende Unterschiede, sagt Mathias Voelchert: „Ein schlecht erzogenes Kind hat Menschen um sich, die nicht klar sagen, was zu tun ist, die zu lieb formulieren, um dem Kind nicht auf den Schlips zu treten, die ihm nicht beibringen können, was sie von ihm wollen, weil sie das Kind nicht erreichen.“ Mit dem Ergebnis, dass die Kinder, haltlos, ihre Umgebung tyrannisieren. Willenstärke hingegen umfasst nicht nur, dass ein Mensch weiß was er will und sich dafür einsetzt – sondern eben genauso, dass er nach freiem Willen verzichten, Impulse kontrollieren und mit Frust umgehen kann.

Vielleicht ist es eine gesunde Reaktion auf eine kinderfeindliche Welt

Eines gibt der Experte noch prinzipiell zu bedenken: „Mein Eindruck ist, dass der Modus willensstark, den viele als trotzig empfinden, oft ausgelöst wird, weil Kinder viel zu viele Neins hören. Mach dies nicht, fass jenes nicht an, das auch nicht, lass das, setz dich ruhig hin. Wenn ich in so einer Welt aufwachse, die nur aus Nein besteht, ist es kein Wunder, wenn ich selbst auch immer mehr versuche, Nein zu sagen“. Schließlich hat jeder Mensch einen eigenen Willen und mag sich nicht ständig unterbuttern lassen. „Wenn wir Eltern die Führung in der Familie behalten wollen, sollten wir dringend überlegen, wo wir für die Kinder Freiräume schaffen können, wo sie Kind sein können, ihren Forscherdrang ausleben, die Welt entdecken statt sich ständig anpassen und tun zu müssen, was man ihnen sagt.“ Ein nötiges Nein an wichtiger Stelle wird dann viel eher akzeptiert als das zehnte Nein in Folge.

Eine ganz besondere Herausforderung: autonome Kinder

In der Regel, sagt Mathias Voelchert, „gibt es keine reinen ‚Ich mach immer nur das, was du willst’ und ‚Ich mach immer nur das, was ich will’-Typen, sondern meist Mischformen.“ Eine Ausnahme sind Kinder, die Jesper Juul als „autonome Kinder“ bezeichnet: extrem unabhängig, kompromisslos selbstbestimmt, nahezu allergisch gegen Erziehungsversuche.

Hier, schreibt Juul in „Elterncoaching“ und „Nein aus Liebe“, gelten andere Regeln, wollen Eltern verhindern, dass die Kinder die Familie regieren: Nähe und Fürsorge dürfen nicht aufgedrängt, sondern nur wie auf einem Büffet angeboten werden. Was und wann sie davon nehmen, ist Sache der Kinder. Mit ihnen kann man reden wie mit einem Erwachsenen. Klare Ansagen („Ich will, dass du das machst“) sind ebenso wichtig wie Freiräume für eigene Entscheidungen („du darfst entscheiden, wann“) und Pausen, damit das Kind Gelegenheit hat, diese Freiheiten auch zu nutzen, zu spüren, dass es aus freien Stücken handeln und sein Gesicht wahren kann. Diese Kinder können erst „Ja“ sagen, wenn sie die Möglichkeit hatten, „Nein“ zu sagen.

Zum Weiterlesen

  • Jesper Juul: Elterncoaching. Gelassen erziehen. Beltz. 2104. ISBN-13: 978-3407859846. 12 Euro.
  • Jesper Juul: Wollen wir wirklich starke und gesunde Kinder? Ein politischer Essay. familylab Schriftenreihe. Edition + Plus. 2014. ISBN-13: 978-3935758529. 5,95 Euro.
  • Britta Hahn: Ich will anders, als du willst, Mama. Kinder dürfen ihren Willen haben – Eltern auch. Erfahrungen mit der Anwendung von GFK (Gewaltfreier Kommunikation) in der Familie. Junfermann. 2007. ISBN-13: 978-3873876651. 18,90 Euro.

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