Tödliche Gewalt in Schulen

Warum Kinder Amok laufen

Ein Jurist hat die Gründe untersucht, die Kinder und Jugendliche veranlassen, an ihrer Schule Amok zu laufen und andere zu töten. Vernachlässigung, aber auch Überkontrolle, können auslösend wirken.

Jurist untersuchte tödliche Schulgewalt im internationalen Vergleich

Junge Waffe verzweifelt
Foto: © panthermedia.net/ Sascha Burkard

Blutige Massenmorde in Schulen waren vor allem aus den USA bekannt, bis ein 19-Jähriger in Erfurt neun Lehrer, vier Lehrerinnen, eine Sekretärin, einen Polizisten, zwei Schülerinnen und anschließend sich selbst erschoss. Bei der Erforschung der Ursachen dieses und ähnlicher Massaker wie dem Mord eines 15-jährigen Schülers an seiner Geschichtslehrerin 1999 in Meißen richtet sich der Blick auf die Vereinigten Staaten und die dort seit Jahren betriebene wissenschaftliche Untersuchung der Motive für diese Gewalttaten. Eine umfassende Analyse hat der münstersche Kriminologe Prof. Dr. Hans Joachim Schneider im Forschungsjournal der Universität Münster vorgestellt.

Die Entwicklung der Tötungsdelikte und deren Ursachen in den USA teilt Schneider in zwei "Epidemien" auf: Von Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre vervierfachte sich die Zahl der Morde durch Jugendliche in den amerikanischen Großstädten. Gründe für die erste Epidemie waren der verbreitete Zugang zu Waffen, die Ausbreitung des Drogenhandels, die verstärkt zur Bewaffnung jugendlicher Straßenhändler führte, sowie steigende Bandenmorde. Während Mitte der 90er Jahre die Zahl der Tötungsdelikte in den Großstädten abnahm, ereigneten sich in dieser Zeit bis 2001 zunehmend Massenmorde in den Schulen der amerikanischen Vor- und Kleinstädte, die bisher als sicher galten und deshalb nur wenig Vorbeugungsmaßnahmen getroffen hatten.

Aggressives Umfeld, fehlende Zuwendung oder Überkontrolle

Die Schule als öffentlicher Platz mit zahlreichen potenziellen Opfern ist ein idealer Tatort für die jugendlichen Täter. In ihren Tagebüchern, Gedichten, Briefen oder Geschichten sprechen sie oft Warnungen aus, die aber durch das "Gesetz des Schweigens" unter Kindern und Jugendlichen nicht bekannt oder beachtet werden. Auslöser sind häufig Konflikte mit Menschen, die den Schülern gut bekannt sind. Die Aggression und die Waffen der Jugendlichen richten sich gegen ihre Familie, Lehrer oder Mitschüler. Die Tat wird nicht selten mittel- oder langfristig geplant und lenkt extreme Medienaufmerksamkeit auf sich. Meist wird die Person des Täters nur oberflächlich beleuchtet, die individuellen Gründe für die Morde werden jedoch kaum beleuchtet.

DEN typischen jugendlichen Verbrecher gibt es nicht

Für Schneider gibt es aus kriminalpsychologischer Sicht nicht den Typ eines jugendlichen Verbrechers, sondern von Fall zu Fall unterschiedliche Merkmale, Tendenzen oder Neigungen der Täter. Vier Hauptursachenführt er für die Massenmorde auf. Diese liegen nach seiner Meinung vor allem im sozialen Umfeld: Dort wird aggressives Verhalten gelernt, aggressive Einstellungen und Skrupellosigkeit erworben, eine friedliche Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten nicht vorgelebt. Die Familien der jugendlichen Täter sind sehr oft zerrüttet, kriminell und gewaltorientiert. Häufig fehlen emotionale Zuwendung und eine Kontrolle durch die Eltern. Aber auch Kinder und Jugendliche aus intakten Mittelschichtfamilien werden zu Massenmördern. Hier ist es häufig eine Überkontrolle durch die Eltern, die eine Isolation dieser Kinder und Jugendlicher und die Flucht in tief verborgene mörderische Phantasien verbunden mit dem Wunsch nach Macht und Dominanz hervorruft. Häufig bleiben die Täter auch in der Schule isoliert, die Mörder selbst betrachten sich als Opfer, fühlen sich schlecht und ungerecht behandelt. Durch Waffen und das Ausleben ihrer Aggressionen bekommen sie das Gefühl der Kontrolle, Selbstsicherheit und Macht.

Vorbeugen durch Training sozialer Kompetenz und Medienerziehung

Unterstützt werden diese Tendenzen laut Schneider auch durch Massenmedien und deren unkontrollierten Konsum durch die Kinder. Durch Gewaltinszenierungen im Fernsehen, glorifizierende Darstellungen von Massenmördern in Spielfilmen und Videospiele oder einzelne Internetangebote nehmen die Kinder und Jugendlichen emotional aktiv an dem fiktionalen Geschehen teil. Doch der Jurist hält die Schwäche der sozialen Institutionen wie Familie, Schule, Kirche oder Nachbarschaft für erheblich schädlicher als die Macht der Massenmedien selbst.

Aufsicht, emotionale Zuwendung, Kontrolle und Anleitung von Kindern und Jugendlichen durch die Eltern und Lehrer gehören zu den wichtigsten Vorbeugungsmaßnahmen der tödlichen Schulgewalt. Der Rechtswissenschaftler nennt acht präventive Zielvorstellungen, die dieser Maßnahme dienen. Der Schwerpunkt liegt vor allem in dem Training der sozialen Kompetenzen durch Eltern und Lehrer, um ein stabiles Selbstwertgefühl zu entwickeln und in einer kompetenten Medienerziehung. Auch die Verringerung der vor allem illegalen Waffen durch den Staat sowie die Sensibilisierung für Drohungen und Warnzeichen in der Schule soll der tödlichen Schulgewalt vorbeugend entgegenwirken. (idw)

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