Freie Zeit statt verplanter Freizeit

Spielen: So wichtig für Kinder

„Spielen“ ist wohl eines der ersten Wörter, die einem zum Thema Kindheit einfallen. Es ist nicht zufällig auch fast das Erste, was Babys tun, sobald sie ihre Händchen und Füßchen kontrollieren können. Warum Spielen die wichtigste Beschäftigung unserer Kinder ist.

Autor: Gabriele Möller

Die schönste Erfindung der Götter

Kind Beschaeftigung Spiel
Foto: © Panthermedia.net/ Daniela Jakob

Die alten Griechen fanden das Spielen so wertvoll, dass sie davon überzeugt waren, die Götter selbst müssten es erfunden haben. So soll sich zum Beispiel der Gott Hermes, ein Sohn von Göttervater Zeus, den Würfel ausgedacht haben. Doch das Bedürfnis zu spielen geht noch viel weiter zurück als bis zur Antike: Schon die Urmenschenkinder waren verspielt. Die ältesten Beweise dafür stammen aus der Jungsteinzeit: Forscher fanden in Kindergräbern puppenähnliche Spielfiguren.

Auch im Leben jedes individuellen Menschen gehört das Spiel zu den frühesten Betätigungen überhaupt: Sobald ein Baby seine Hände und Füße wahrnimmt, beginnt es auch schon, damit zu spielen. Anfangs ist es noch Zufall, wenn es einen Fuß zu packen bekommt. Mit der Zeit bemerkt es dann, dass Hände und Füße zu seinem eigenen Körper gehören, und dass es sie steuern kann. Mit etwa drei Monaten können Babys ihren großen Zeh meist schon zielsicher im Mund platzieren und vergnügt daran lutschen.

Das Funktionsspiel: Pure Freude an der Bewegung

Können kleine Kinder sitzen und später krabbeln und laufen hat auch diese Bewegung oft etwas Spielerisches. Besonders offensichtlich wird dies, wenn Kinder rennen, einfach weil es solchen Spaß macht und nicht, weil sie es tatsächlich eilig hätten. Oder wenn sie auf kleinen Mauern balancieren möchten, verschiedene Hüpftechniken oder auch mal das rückwärts Laufen probieren. Entwicklungspsychologen bezeichnen die reine Freude an der Bewegung als „Funktionsspiel“. Es beginnt im Babyalter und zieht sich bei Kindern durch die ganze Kindheit.

Symbole - Eintrittskarten in die Welt

Alle Eltern wissen es: Je älter ein Kind wird, desto komplexer wird sein Spielverhalten. Nach dem Erkunden der eigenen Gliedmaßen und dem ersten Hantieren mit Gegenständen durch das Krabbel-Baby, kommt es beim Kleinkind zum Symbolspiel, wie es Entwicklungspsychologen nennen. Leichter verständlich ist der Begriff „Als-ob-Spiel“. Dabei stellt sich das Kind vor, sein Spielzeug sei etwas anderes, als es eigentlich ist: Ein Bauklotz ist ein kleines Haus, ein Holzlöffel ein Zauberstab, ein Stofftier wird lebendig und kann sprechen. In diesem Alter spielen die Kinder oft noch nicht miteinander, sondern eher nebeneinander her. Als-ob-Spiele helfen dem Kind, sich seine Welt auf vereinfachte Weise zu erschließen: „In Symbolspielen haben Kinder die Möglichkeit, ihre Vorstellungen von der Welt aufzubauen - und sie verstehen zu lernen", erklärt die Schweizer Diplom-Logopädin Dominique Bürki, die zum Spielverhalten von Kindern forscht.

Ich bin Du und Du bist ich – Rollenspiele

Er dürfte schon Jahrtausende alt sein: der Klassiker „Mutter, Vater-Kind“, den auch heute noch vor allem Mädchen mit Begeisterung spielen. Jungen mögen sich eher in die Rolle von Actionhelden hineinversetzen, doch das Grundprinzip ist dasselbe: Es wird nun schon miteinander gespielt, man denkt sich gemeinsam eine Geschichte aus, und es werden Rollen verteilt. Mal ist man der Böse, Starke, Wilde, mal der Gute, Gerechte, Tapfere. Mal die bestimmende Mutter, mal das aufmüpfige Kind. Man probiert also aus, wie es sich anfühlt, jemand anderes als man selbst zu sein. Das ist ein großer Schritt für das kindliche Bewusstsein. Denn es setzt voraus, dass das Kind schon eine recht klare Vorstellung von sich selbst hat: Nur wer sich kennt, kann in eine fremde Rolle schlüpfen.

Das ausgedachte Spiel ist für das Kind dabei fast so wichtig wie die Wirklichkeit: „Das Geschehen in der Spielrealität ist zwar eine eingebildete Situation, wird aber dennoch von den Kindern emotional als real erlebt“, erklärt Dominique Bürki. Auch das Beobachten solcher Spiele ist spannend: Denn bei Symbol- und noch mehr bei Rollenspielen drücken die Kinder das aus, was sie im Augenblick fasziniert, beschäftigt (manchmal auch beunruhigt). Das Symbolspiel ermöglicht Eltern also auch einen Blick in die Vorstellungswelt des eigenen Kindes.

Konstruktionsspiele: Bausteine als Brücken zur Welt

Parallel zu diesen Spielformen entwickelt sich das Konstruktionsspiel. Kleinkinder versuchen, kleiner werdende Ringe auf einen Stab zu stecken, unterschiedlich große Becher ineinander zu legen oder größere Klötze noch etwas ungeschickt zu Türmen zu stapeln. Später beginnen sie, Dinge auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Wer sein Kind glücklich machen möchte, nimmt hier und da einen kleinen materiellen Verlust in Kauf und zerschneidet vielleicht einmal einen Tennisball oder öffnet einen Teebeutel, um dem Kind das Innere zu zeigen. Auch kaputte Alltagsgegenstände können vor dem Gang in die Mülltonne noch den Nachwuchs verzaubern: Wer weiß schon, wie ein CD-Spieler von innen aussieht? Sitzt da eigentlich jemand drin, der Musik macht?

Ab etwa zwei Jahren werden auch Baustein-Systeme spannend, bei denen man aus bunten Einzelteilen etwas ganz Neues herstellen kann. Kinder lieben es, simple Stecktürme – mit elterlicher Schützenhilfe – in schwindelerregende Höhen wachsen zu lassen, kleine Gebäude zu errichten oder auch einfach nur eine Zaunumrandung für ihre Bauernhoftiere zu bauen. Geschickte Tüftler steigen schon im Kindergartenalter auf kleinere Stecksteine um und bauen Raumschiffe, Fahrzeuge aller Art oder Gebäude. Mit zunehmendem Alter wächst die Fähigkeit zu immer komplizierteren Konstruktionen.

Regelspiele – eine echte Herausforderung

Im Kindergartenalter werden auch die ersten einfachen Gesellschaftsspiele möglich. Kinder verstehen, dass dabei bestimmte Regeln eingehalten werden müssen, wenn es gerecht zugehen soll. Ob bei Memory, Lotti Karotti oder dem Angelspiel - sich an Regeln zu halten, auch wenn das manchmal schwer fällt, erfordert Selbstkontrolle. Die ist oft noch eine große Herausforderung für jüngere Kinder. Kleine Niederlagen auszuhalten und sich ans Fairplay zu halten, ist wichtig bei der Entwicklung des Sozialverhaltens.

Eine weitere Form der Regelspiele sind Bewegungsspiele wie Fangen, Wettlaufen, Kreisspiele (“Plumpssack“), Ball-, Kugel- oder Kegelspiele im Freien oder in einer Turnhalle. Auch hier geht es darum, sich an bestimmte einfache Regeln zu halten und seine Geschicklichkeit zu erproben.

Nachsicht mit schlechten Verlierern

Mit schlechten Verlierern sollten die Erwachsenen noch geduldig sein: Je jünger das Kind, desto geringer die Frustrationstoleranz. Tränenreiche Verzweiflung oder das wütende Umstoßen der Spielfiguren bei einer schmerzvollen Niederlage sind normal. Wenn Kinder bei bestimmten Spielen wegen ihres Alters automatisch benachteiligt sind, dürfen Eltern anfangs noch ab und zu (aber nicht immer) absichtlich verlieren. Denn wer als Kind ständig und zwangsläufig verliert, verliert auch bald die Freude am Spiel.

Freispiel – nie war es so kostbar wie heute

Das freie Spiel ist wohl die ursprünglichste Form des Spiels. Das zeigt sogar die Herkunft des Begriffs „Spiel“: Es stammt vom althochdeutschen Wort „spil“, das ursprünglich eine Tanzbewegung bezeichnete. Es geht hier also um eine tänzerisch-leichte Tätigkeit ohne bewussten Zweck, die zum puren Vergnügen ausgeübt werden darf. Sie hat ihren Sinn ganz in sich selbst und bietet Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung – entweder allein oder in Gesellschaft.

Das Freispiel kommt in Zeiten, wo die Freizeit schon der Kleinsten oft sehr durchorganisiert ist, oft zu kurz, wie Entwicklungspsychologen warnen. Die meisten Hobbys von Kindern werden heute von Erwachsenen organisiert und veranstaltet. Und das ist bedenklich, denn Entwicklungspsychologen bescheinigen dem Freispiel, dass es wichtiger und weitaus fördernder ist als viele andere der sogenannten Förderangebote. Es ist also wichtig, dass Kinder noch möglichst viele Stunden in der Woche Zeit haben für ihre ganz eigenen Spielideen, die sie (weitgehend) unbeobachtet, unbeeinflusst und unangeleitet umsetzen können.

Gute Ideen brauchen Langeweile

Damit Kinder zum Freispiel finden, ist es wichtig, keine Dauer-Bespaßung zu liefern. Manche Eltern bieten ihrem Kind fast den ganzen Tag Spielanregungen. Klagt das eigene Kind „Mir ist so langweilig“, sollte man aber nicht reflexhaft nach Vorschlägen kramen. Man darf dem Kind zutrauen, dass es hier selbst Abhilfe findet. Meist ist der Nachwuchs denn auch rasch in ein selbst ausgedachtes Spiel vertieft. Noch besser funktioniert das, wenn Spielkameraden zur Hand sind. Ein Kind kann gar nicht oft genug mit anderen Kindern zusammenkommen. Kontakte knüpfen zu anderen Familien mit Kind ist daher für Eltern nicht nur wichtig, sondern entlastet auch von der Rolle als „Alleinunterhalter“.

Spielen fördert die Entwicklung ohne Zwang

Es wird deutlich, spielen ist für Kinder unendlich wichtig. Denn es kann fast alles, was für kleine Menschen bedeutsam ist:

Motorik und Geschicklichkeit fördern

Fünf Mal ist der schiefe Turm schon umgefallen, doch beim sechsten Mal bleibt er – wenn auch wankend – stehen. Das ist Glück pur für das Kind, das nicht aufgegeben, sondern es immer wieder von Neuem probiert hat. Konstruktionsspiele machen also die noch tapsigen Fingerchen mit der Zeit geschickt. Doch auch Bewegungsspiele sind unerlässlich für die Entwicklung der Motorik: Wer Haken schlagen oder sprinten muss, um den Ball noch zu erwischen, bekommt Wendigkeit und Körperbeherrschung.

Logisches Denken entwickeln

Schon früh machen Kinder beim spielerischen Experimentieren die Entdeckung, dass Ursache und Wirkung eng zusammenhängen: Wenn man den Ball anschubst, rollt er, wenn man die Rassel schüttelt, gibt es ein Geräusch. Wenn man ein paar Kressesamen auf Watte gibt und sie feucht hält, sieht man sie bald keimen und einen grünen Kräuterteppich bilden. So lernen Kinder, welche Auslöser welche Wirkung nach sich ziehen. Sie können dies mit der Zeit auf andere Dinge übertragen und bewusst einplanen.

Dem Kind gemeinsame Zeit schenken

Wenn der Fernseher aus bleibt und die ganze Familie Monopoly spielt, stärkt diese fröhliche „Tafelrunde“ das Wir-Gefühl so gut wie kaum eine andere Aktivität: weil man etwas zusammen macht, lacht, Ärger beschwichtigt, Regeln diskutiert und vielleicht hier und da sogar eine neue Spielregel einführt. Gleiches gilt für gemeinsame Spielprojekte: Ein kleines Schiff zu bauen, dass im Bach oder einer Riesenpfütze auf Hochseetauglichkeit getestet wird, oder ein Vogelhaus zu konstruieren – dies macht Kindern nicht nur Spaß. Das vielleicht noch größere Geschenk ist für sie die Zeit, die Mama oder Papa ihnen bei diesem Projekt schenken.

Bei Mannschaftsspielen ist es eher das Wir-Gefühl unter Gleichaltrigen, das gestärkt wird. Kinder lernen, dass man gemeinsam mehr erreichen kann, als als Einzelkämpfer. Und dass man selbst manchmal etwas zurückstecken muss, wenn alle zusammen zum Erfolg kommen sollen.

Neue Blicke auf die Welt

Der Blick von Kindern ist weit. Wo wir Erwachsenen voller Erfahrungen und Überzeugungen auf die Dinge schauen, sind Kinder noch völlig offen und urteilsfrei. Ihre Welt ist bunt, voller Magie und unbegreiflicher, aber deshalb umso spannenderer Dinge. Und das zeigt sich auch in ihrem Spiel: Vor allem bei Rollen- oder Als-ob-Spielen experimentieren sie mit neuen Blickwinkeln und stellen Naturgesetze ungerührt auf den Kopf. Diese völlige Freiheit im Denken trägt manchmal erstaunliche Früchte: Viele Eltern haben schon einmal die Erfahrung gemacht, dass ihr Kind für ein Problem eine bestechend einfache Lösung vorschlug, während die Erwachsenen noch mit dem Problematisieren beschäftigt waren.

Die Ausdauer stärken

Sorgen ein Bobbycar-Wettrennen, das Kicken auf dem Bolzplatz oder auch ein Besuch in einem Kletterwald naturgemäß dafür, dass die körperliche Ausdauer wächst, ist es beim „Diabolo“ oder dem einfachen Spiel mit dem Jojo eher die mentale Ausdauer. In beiden Bereichen machen Kinder die Erfahrung, dass auf eine Niederlage auch wieder ein Erfolg kommt, und dass etwas anfangs noch zu Kniffeliges plötzlich geschafft wird – wenn man es immer wieder versucht. Die hartnäckige Stehauf-Männchen-Taktik aber ist auch eine wunderbare Vorbereitung auf die Schule.

Apps, Spielkonsolen oder Computerspiele  leisten dies übrigens nicht auf dieselbe Weise. Sie machen durch ihr Tempo und ihren Zeitdruck eher zappelig und überreizt, weshalb diese Spiele zeitlich begrenzt sein sollten. Wer „gedaddelt“ hat, sollte außerdem hinterher an die frische Luft und sich dort austoben, um die innere Spannung wieder loszuwerden.

Die Sinne anregen

Kinder sind fühlende Wesen – im wahrsten Wortsinn: Wenn sie etwas Interessantes sehen, möchten sie es immer zugleich auch anfassen und erfühlen. Dabei werden oft nicht nur die Hände, sondern auch der ganze Körper eingesetzt: Da wird der „Schneeadler“ mit Armen und Beinen in die weiße Pracht gedrückt, wobei man zugleich die Kälte des Schnees und das Sonnenlicht spürt, das die Augen blendet. Oder man kugelt genüsslich einen grasbewachsenen Abhang herunter, atmet ganz nebenbei den Duft der Sommerwiese ein und sieht mit den Augen abwechselnd Himmel und Grün vorbeisausen.

Glücklich machen

Doch beim Spielen geht es nicht nur um den Nutzen für die kindliche Entwicklung - Spielen macht schlicht und einfach glücklich. Toben, Rennen und Hüpfen fühlen sich ebenso gut an, wie Erfolgserlebnisse oder das Gefühl des Miteinanders in Familie oder Gruppe. Spielen macht die Kindheit reich und randvoll mit schönen Erinnerungen, von denen man auch als Erwachsener noch zehrt. Es ist zudem ein freudvoller Gegenpol zum Leistungsdruck, der oft schon mit dem Grundschulstart beginnt.