Die schwere Frage, wo und wie es weh tut

Schmerzen bei Kindern

Lange Zeit war umstritten, was heute als bewiesen gilt. Neugeborene nehmen Schmerzen wahr und können sich an sie erinnern. Doch das kindliche Schmerzempfinden unterscheidet sich von dem Erwachsener.

Autor: Simone Kanter

Der Streit um das Schmerzempfinden von Säuglingen

Kind krank liegend
Foto: © iStockphoto.com/ Soubrette

Im Mittelalter wurde es als heroisch angesehen, wenn ein Mensch Schmerzen stillschweigend durchlitt. Heute klären wir unseren Hausarzt detailliert darüber auf, wann und wo es uns in welcher Art und Weise schmerzt.

Doch was ist eigentlich Schmerz, und wie erleben ihn Säuglinge und Kleinkinder?

Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das aufgrund einer Schädigung oder Verletzung auftritt, so lauten die gängigen Definitionen. Doch Schmerz ist mehr als ein unangenehmes Gefühl. Er bedeutet vor allem auch Schutz und Warnfunktion. Denn durch ihn wird der Mensch darauf aufmerksam, dass etwas nicht in Ordnung, dass zum Beispiel die Gesundheit angegriffen ist. Ein Kind registriert jede kleine Missempfindung als einen Schmerz und verlangt nach Aufmerksamkeit, sagt Dr. Rudolf Weitz, Kinder- und Jugendarzt der Kinderpraxis Jülich.

Schmerzempfinden und -erinnerung Neugeborener

Geht man als Eltern, Geschwister oder Verwandte berechtigter Weise davon aus, dass dieses kleine, zerbrechliche Wesen einen versehentlichen Stoß schmerzhafter empfindet als ein ausgewachsener Mensch, der etwa dreimal so groß und zwanzigmal so schwer ist, meinten einige Mediziner noch vor gar nicht allzu langer Zeit das genaue Gegenteil.
Eltern werden kopfschüttelnd zurückschrecken, klärt man sie darüber auf, dass noch bis zum Ende der 80er Jahre Neugeborene Operationen ohne Betäubung durchleben mussten. Dr. Boris Zernikow, Kinderarzt an der Vestischen Kinderklinik Datteln, sagte gegenüber Radio Bremen Zwei: "Es bestand einfach die Meinung, vor allen Dingen in den angloamerikanischen Ländern, weniger in Deutschland, dass das Nervensystem der Kinder noch nicht ausgereift genug ist, um Schmerzen zu erleben und es besteht immer noch bei vielen die Meinung, dass sich die Kinder nicht an die Schmerzen erinnern können. Beides ist sicherlich falsch." Forschungsergebnisse aus der Embryologie, aus klinischen Tierversuchen und Studien zeigen, dass bereits ab der 22. Woche Schmerz wahrgenommen und verarbeitet werden kann. Säuglinge, die in den ersten Lebensstunden Schmerzen erleiden, vergessen diese nicht und sind im späteren Leben meist schmerzempfindlicher als ihre Altersgenossen. Es gibt genügend Befunde dafür, dass auch die Jüngsten ein Schmerzgedächtnis besitzen. Amerikanische Untersuchungen ergaben, dass vor allem kleine Jungen, die ohne Betäubung beschnitten wurden, selbst bei Impfungen starke Stressreaktionen aufweisen. Daher sind örtliche Betäubungen auch im Säuglingsalter angezeigt.

"Aber auch viele alltägliche ärztliche Eingriffe, angefangen von der venösen Blutentnahme, sind für ängstliche Kinder hoch traumatisierend. Der Kinderarzt sollte in der Lage sein, notfalls auch schmerzhafte Eingriffe schonend vorzunehmen," sagt Dr. Weitz. "Dazu muss er sich dem Kind mit betonter Geduld und Zärtlichkeit annähern, aber auch entschlossen genug vorgehen." Der Kinderarzt betont, dass Kinder sehr tapfer sein können, wenn sie die Liebe ihrer Eltern und auch die Zuneigung des Arztes spüren können.

Kinder nehmen Schmerzen anders wahr

Babys schreien, wenn sie Körpernähe suchen oder hungrig sind. Sie weinen aber auch, wenn ihnen etwas weh tut. Können Eltern dennoch herausfinden, was das Weinen ihres Babys jeweils zu bedeuten hat? "Säuglinge und Kleinkinder simulieren nicht! In der Regel entwickeln Eltern sehr rasch eine Sensibilität für die Schmerzäußerung ihres eigenen Kindes. Dies darf man natürlich mit Recht auch von seinem Kinderarzt erwarten", so Dr. Rudolf Weitz. Demnach ist es die persönliche Beobachtung, die Aufschluss über die Stärke der Schmerzempfindung geben kann.

Bis zum Alter von zwölf Jahren können Kinder Schmerzen nicht in dem Sinne lokalisieren, wie Erwachsene es tun. Oft wird an das Bäuchlein gefasst, auch wenn es das Ohr ist, das weh tut. Kleinkinder sind zwar in der Lage den Schmerzort zu beschreiben, allerdings ist ihre Darstellung des genauen Ortes, der Stärke und Art des Schmerzes nicht mit der Wahrnehmung Erwachsener zu vergleichen. Erst mit der Einschulung beginnt sich die Schmerzwahrnehmung des Kindes an die des Erwachsenen anzugleichen.

Prof. Dr. Birgit Kröner-Herwig, Leiterin der Abteilung klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Göttingen, beantwortet die Frage nach den Verschiedenheiten kindlicher und erwachsener Schmerzwahrnehmung folgendermaßen: "Es unterscheiden sich je nach Alter die Differenzierbarkeit (hinsichtlich Ort, Qualität) der Schmerzen, die Schmerzschwelle und die Toleranz. Auch die Verhaltensreaktionen unterscheiden sich." Säuglinge drücken Schmerzen durch Weinen und bestimmte Bewegungen (zum Beispiel Sich-Krümmen) aus, Kleinkinder klagen durchaus schon mit Worten.

Kinder nehmen Schmerz nicht nur anders wahr, sie verstehen ihn auch auf andere Art und Weise. So kann es geschehen, dass körperliche Schmerzen als Strafe empfunden werden. Was ein Kind unter Schmerzen versteht, hängt vom Entwicklungsstand des Kindes ab, so Prof. Dr. Kröner-Herwig. Das Verständnis reift wie die Schmerzwahrnehmung ca. zum zehnten bis zwölften Lebensjahr aus.

Kinder, die häufig unter Bauch- oder Kopfschmerzen leiden, müssen ernst genommen werden, so die einhellige Meinung von Medizinern. "Sobald Kinder sich schämen, ihre gefühlten Schmerzen den Eltern mitzuteilen, ist es eigentlich schon zu spät", warnt Dr. Weitz. Klagt das Kind öfter über Kopf- oder Bauchschmerzen, sollten Eltern darauf achten, wann und mit welcher Intensität der Schmerz auftaucht. Ein Kopfschmerzkalender kann die Zusammenhänge offensichtlicher machen und dem Arzt zur sicheren Diagnose verhelfen. Weshalb Kopfschmerzen bei Kindern immer mehr zunehmen, ist wissenschaftlich bisher nicht eindeutig geklärt. Denkbar wäre die heutige Bewegungsarmut, gekoppelt mit dem hohen Maß an mentalen Tätigkeiten, z.B. Fernsehen, Computerspiele, sowie die frühe Verantwortungsübertragung, meint Prof. Dr. Kröner-Herwig.

Die Behandlung von Schmerzen bei Kindern

Hier gilt es zu unterscheiden, ob das Kind an akuten oder chronischen Schmerzen oder an Schmerzen nach einer Operation leidet. Prof. Dr. Kröner-Herwig weist darauf hin, dass zum Beispiel bei Kopfschmerzen die medikamentöse Behandlung zurückhaltend sein sollte, damit Kinder die Einnahme von Schmerzmitteln nicht als generelle Lösung erlernen. Eltern, die rasch zur Tablette greifen, werden auch ihrem Kind gegenüber großzügiger sein. Dabei kann manches Mal schon ein liebevolles Gespräch oder eine Kuschelstunde Wunder wirken. Sinnvoll ist es, über die möglichen Ursachen des Leidens zu reden. Selbst kleinen Kindern kann zugesprochen werden, ein wenig Schmerz auszuhalten. Anschließendes Lob für die Tapferkeit des Sprösslings lassen die unschönen Augenblicke in Vergessenheit geraten.
Bevor in den Medikamentenschrank gegriffen wird, ist es sinnvoll, alt bewährte Hausmittel wie Wadenwickel bei Fieber, ein Kamille-Bauchwickel oder eine Tasse Anis-Kümmel-Milch bei Bauchschmerzen auszuprobieren. Ein Kind, das an akuten Kopfschmerzen leidet, kann Linderung beispielsweise schon in einem abgedunkelten, ruhigen Raum finden.

Bei immer wiederkehrenden Kopfschmerzen kann eine verhaltenstherapeutische Behandlung wirksam sein, die frühestens ab dem achten Lebensjahr begonnen werden kann. Es bestehen zum Beispiel die Möglichkeiten des autogenen Trainings, eines Biofeedbacks, bei dem der Betroffene lernt, Körpervorgänge willentlich zu kontrollieren oder auch der Hypnose, deren Wirksamkeit im Bereich der Schmerztherapie nachgewiesen wurde.

Muss aber doch eine Tablette, ein Zäpfchen oder ein Schluck Saft zur Schmerzlinderung verabreicht werden, reagiert das Kind womöglich mit heftiger Abwehr. Der bittere Geschmack, das unschöne Aussehen, es gibt genügend Gründe dieses "Zeug", was Mutter oder Vater in den Händen hält, nicht zu schlucken. Auch hier hilft Reden. Mit Geduld und Liebe kann das Kind davon überzeugt werden, dass die Tablette oder der übel schmeckende Saft die Bauch- oder Kopfschmerzen verschwinden lässt. Hat das Kind die Medizin eingenommen, sollte das elterliche Lob nicht ausbleiben.

Kinder und Schmerz stillende Medikamente

ÖKO-TEST hat 40 rezeptfreie Schmerz- und Fiebermittel unter die Lupe genommen. In allen Präparaten ist der Wirkstoff Paracetamol enthalten "30 Schmerzmittel für Kinder - das sind drei Viertel aller getesteten Produkte - schnitten mit "sehr gut" ab, sechs weitere mit dem Prädikat "gut". "ÖKO-TEST weiter, "zwei Medikamente in Zäpfchenform von Ratiopharm schafften dagegen nur ein "befriedigend", zwei Präparate in Saftform sogar nur "ausreichend" - darunter auch die Lösung von Ratiopharm." Hilfsstoffe, die die Arznei versüßen, wurden als bedenklich und gesundheitlich umstritten bezeichnet.

Von einer Selbstmedikation raten Ärzte ab. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Auch nicht verschreibungspflichtige Präparate wirken auf den kindlichen Organismus anders als auf einen ausgewachsenen. Daher genügt es nicht, dem Kind einfach eine geringere Menge der Arznei zu zuführen. Die Absprache mit dem Arzt sollte eingehalten werden. Denn gewohnte, Schmerz lindernde Medikamente wie Paracetamol u.a., dämpfen Symptome, die möglicherweise auf eine Krankheit hindeuten. Zum Weiteren birgt die häufige Einnahme bekannter Schmerzlöser das Risiko eines medikamentös bedingten Leidens, wie Dauerkopfschmerzen, Nierenversagen oder Organschäden. Eine andere Gefahr stellt die sogenannte Schmerzmittelvergiftung, die durch eine Überdosierung hervorgerufen wird dar. Deshalb sollte der Weg zum Kinderarzt keinem Elternteil zu anstrengend sein.

Tipps vom Kinderarzt: Schmerzmittel bei Kindern

Nach operativen Eingriffen werden Kinder oft unzureichend mit Schmerzmitteln versorgt, meint Prof. Dr. Kröner-Herwig. Aber auch bei Frühgeborenen und chronisch kranken Kindern wird mit Schmerz stillenden Arzneien oft allzu sparsam umgegangen. Einige Medikamente dürfen den jungen Patienten allerdings nicht verabreicht werden. Das häufige Argument einer zu hohen Suchtgefahr weisen viele Ärzte jedoch zurück. Sowohl der Kinderarzt Dr. Weitz als auch die Psychologin Prof. Dr. Kröner-Herwig geben zu verstehen, dass Kinder sich der Schmerzmittel erstens nicht selbst bedienen und zweitens in so beschränkten Mengen erhalten, dass eine Suchtgefahr ausgeschlossen werden kann. Ein Problem, das bei jeder Form von Medikamentengabe an Neu- und Frühgeborene zu beachten ist, ist der noch nicht voll entwickelte Leberstoffwechsel dieser Kleinsten.

Bei chronischen Schmerzen lässt sich eine medikamentöse Behandlung nicht umgehen. Kinder erhalten ebenso wie Erwachsene anfangs schwache Schmerzmittel (Analgetika). Reicht die Wirksamkeit dieser Medikamente nicht aus, werden sie erst durch schwache, später durch starke Präparate (Opioide) ersetzt. Schmerz stillende Mittel sollten nur in Absprache mit dem Arzt über einen längeren Zeitraum hinweg eingenommen werden.

Da Medikamente farblich oder im Geschmack für Kinder interessant sein können, ist es besonders wichtig, sie nicht in deren Reichweite aufzubewahren. Muss ein Kleinkind Medizin einnehmen, sollte man sicher stellen können, dass das Kind die gesamte Medikamentenmenge einnimmt. Dies erreicht man zum Beispiel, wenn nur ein Teil der Nahrung mit der Arznei vermischt wird. Ist jener Teil verspeist, kann die restliche Flasche oder der übrige Brei gefüttert werden.

Abschließend lässt sich sagen, dass Schmerz das Erleben eines Säuglings oder eines Kleinkindes ebenso beeinträchtigt wie das eines Erwachsenen. Und hätte ein Baby die Möglichkeiten, würde es alles dafür tun, schmerzfrei diese Welt zu entdecken.

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