Fantasie und freies Spiel

Ein Tag im Waldorfkindergarten

Kinder wollen nicht in einer künstlichen Kinderwelt untergebracht werden. Sie möchten daran teilhaben, was die Erwachsenen tun. Im Waldorfkindergarten geht das.

Autor: Anne Rodler

Freies Spiel im Waldorfkindergarten Düsseldorf

Zwei Maedchen vor Holzhaus panther MonkeybusinessImages
Foto: © panthermedia.de/ MonkeybusinessImages

Um neun Uhr morgens herrscht im Waldorfkindergarten Düsseldorf-Heerdt schon ausgelassene Stimmung: Ein paar Kinder spielen in der Puppenecke, während sich andere gerade mit Tüchern verkleiden. In der Bauecke entsteht eine Zwergenhöhle. Der Morgen beginnt mit "Freiem Spiel", bei dem sich die Kinder ihre Spielecken und Spielsachen selbst aussuchen.
Heute ist Dienstag. Da gibt es immer selbst gebackene Brötchen, die die Kinder zusammen mit den Erzieherinnen backen. Jeden Morgen vereint das gemeinsame Frühstück alle Kinder. Ein Lied oder ein Reim leiten es ein. Nach dem Frühstück geht es häufig nach draußen, wo die Sprösslinge wieder frei spielen und toben. "Die Kinder leben hier in einem festen Rhythmus. Das ´Freie Spiel´ wechselt mit gemeinsamen Tätigkeiten wie Morgenkreis und Märchenstunde, Frühstück und Mittagessen ab", erläutert die Leiterin der Einrichtung Sabine Hoffmann. So gibt es Phasen, in denen entweder mehr der Körper oder die Sinne angesprochen werden. Es gibt laute und leise Tätigkeiten, wilde und ruhige. Der Körper eines Kindes kann sich somit richtig austoben und dann auch wieder zur Ruhe kommen. Die Sinne werden ganz vielfältig angesprochen. "Durch diese Phasen des ´Einatmens´ und ´Ausatmens´ bekommt ein Kind die Kraft, die für seine körperliche und seelische Entwicklung so wichtig ist", erklärt Sabine Hoffmann. "Wir kennen in der Natur ja auch Sommer und Winter, Tag und Nacht, Ebbe und Flut." Der feste Tagesrhythmus macht den Kindern Spaß. Sie wissen immer, was passiert.

Mittwoch ist Pizzatag

Auch die Woche hat einen festen Speiseplan und einen Plan für künstlerische und sportliche Aktivitäten. Die Vorfreude auf den Pizzatag, den Mittwoch, oder den Nudeltag am Donnerstag wird immer gründlich ausgekostet. "Dienstag ist der Tag, an dem die Kinder mit Ton und anderen Materialien modellieren. Und freitags malen wir mit Wasserfarben," erzählt die Leiterin aus Düsseldorf. Montags kommt eine ausgebildete Eurythmielehrerin in den Kindergarten. Eurythmie wurde von Rudolf Steiner, dem Gründungsvater der Waldorfpädagogik, ins Leben gerufen. Sie vereint Sprache mit Bewegung. Manchmal können die Kinder zu den eurythmischen Bewegungen und Formen Orffsche Instrumente spielen. Hierzu zählen beispielsweise Klanghölzer und pentatonisch (in einer Harmonie aus fünf Tönen) gestimmte Kinderharfen.

Mit den Jahreszeiten leben

Im Waldorfkindergarten gibt es keine Projektwochen. "Wir gestalten das Kindergartenjahr nach den Jahrezeiten und Festen," erklärt Sabine Hoffmann. "So lesen oder erzählen wir passende Geschichten, zum Beispiel zur Weihnachts- oder Osterzeit, die täglich fortlaufen. Auch gibt es Morgenreime zur jeweiligen Jahreszeit, die sich täglich wiederholen. Denn Kinder lieben Wiederholungen und genießen bereits erfahrene und erlernte Dinge immer wieder," sagt die Düsseldorferin.

Dass Mittwoch der Pizza- und Freitag der Wasserfarbentag ist, hat auch damit zu tun, dass Kinder weder nach dem Kalender noch nach der Uhr leben. Sie orientieren sich an Ereignissen und Feiertagen, an Jahres- und Ferienzeiten.

Teilhaben, an dem, was Erwachsene tun

Kinder wollen nicht in einer künstlichen Kinderwelt untergebracht werden. Sie möchten teilhaben an allem, was die Erwachsenen tun und alle Gegenstände, die Erwachsene benutzen, auch selber ausprobieren. Sie nehmen sich ihre Erzieher und Eltern ganz stark zum Vorbild.
Im Waldorfkindergarten in Düsseldorf hat jeder Gruppenraum deshalb eine eigene Kochecke. Hier wird zusammen das Frühstück zubereitet. Außerdem werden alle Tätigkeiten von den Großen so ausgeführt, dass sie auch von Dreijährigen nachgeahmt werden können. Wenn etwas kaputt geht, helfen die Kinder bei der Reparatur. Dafür steht eine Werkbank in der Ecke bereit. "Wir möchten die Kinder über das Tun und nicht nur über Erklärungen erreichen," erklärt dazu Sabine Hoffmann.

Phantasie ohne Ende

Die Waldorfler haben ganz bestimmtes Spielzeug entwickelt. Ein wichtiges Merkmal ist, dass alles aus Naturmaterialien besteht. Bauteile sind meistens aus Holz und besitzen keine vorgefertigten Formen, denn mit Brettern, Holzscheiben, Klötzen und Kugeln lassen sich unendlich viele Konstruktionen zusammensetzen. "Hätten wir nur Bauteile für Häuser, wären auch die Gedanken der Kinder viel eingeschränkter", erklärt Sabine Hoffmann. "Mit dem, was wir hier haben, denken die Kinder sich Schiffe, Zelte, Hexenhäuser, Tiergärten, Manegen und noch viel mehr aus. Die Möglichkeiten ihrer Phantasie sind dadurch unbegrenzt!" Und welch beeindruckende Ideen Kinder haben, wenn sie erst mal eine sprühende Phantasie und Vorstellungskraft entwickelt haben, entbehrt jeder Beschreibung.

Kreativitätsförderung wird groß geschrieben

"Genau das ist es, was wir beabsichtigen", unterstreicht die Kindergartenleiterin. "Hier möchten wir vor allem die Kreativität und die Phantasie der Kleinen anregen und ausbilden. Je reicher die Phantasie ist, desto weniger vorgefertigtes Material braucht ein Kind." Aus diesem Grund haben auch die Waldorfpuppen nur mit Punkten angedeutete Gesichter. Die sollen für jede erdenkliche Gefühlsregung zur Verfügung stehen und nicht den ganzen Tag lächeln müssen. Die Tücher und Verkleidungsmaterialien stellen ebenfalls nicht bestimmte Charaktere wie Piraten oder Prinzessinnen dar. "Aus unseren Umhängen und Stoffen, die wir hier selber nähen, entstehen gleichfalls unendliche Variationen von kostümierten Rollenspielen", hebt die Düsseldorferin hervor.

Ist der Waldorfkindergarten zeitgemäß?

Oft wird der Waldorfpädagogik angehängt, zu dogmatisch zu sein. Sabine Hoffmann berichtet jedoch, dass in ihrem Kindergarten versucht wird, gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen. "Heutzutage müssen wir die Waldorfpädagogik immer neu verstehen und ihre Ziele unserer heutigen Gesellschaft anpassen. Das bedeutet für uns zum Beispiel flexiblere Öffnungszeiten. Wir möchten auch Kindern allein erziehender Eltern oder Kindern, deren Eltern beide arbeiten, zur Verfügung stehen. Deshalb haben wir bis 16 Uhr geöffnet," begründet Sabine Hoffmann. In einigen Waldorfkindergärten ist das Mittagessen Aufgabe der Eltern. In Düsseldorf gibt es hierfür eine eigene Köchin, die alle Nahrungsmittel aus biologischem Anbau bezieht und die Kinder vegetarisch bekocht.

Kinder sind heute anders

Aber nicht nur die Situation der Familien, auch die Entwicklung der Kinder ist heute anders. Heute lernen Kinder zum Beispiel schneller krabbeln und laufen. Sie bekommen vieles einfach schneller mit. "Außerdem", erzählt Sabine Hoffmann, "haben wir die Beobachtung gemacht, dass Kinder bei Eintritt in unseren Kindergarten im Alter von drei Jahren weniger Fantasiekraft besitzen als vor 20 Jahren. Das hat uns dazu veranlasst, ein paar vorgefertigte Spielzeuge wie eine Holzeisenbahn aufzunehmen. Kindern, die kaum ihrer eigenen Phantasie freien Lauf lassen können, wird somit der Einstieg in unsere Spielwelt erleichtert. Nach und nach versuchen wir dann, die Kinder auf die Spielsachen, die nur ihre eigenen Gedanken zulassen, einzustimmen." Auch wenn sie Fernseher für sich und ihre Einrichtung ablehnt, ist der Leiterin des Düsseldorfer Waldorfkindergartens klar, dass ein absolutes Fernsehverbot nichts bringt. "Wir können unsere Augen heutzutage nicht mehr vor der rauschenden Medienwelt verschließen, wie es so mancher Anthroposoph vielleicht gerne hätte", räumt Sabine Hoffmann ein. "Wichtig ist uns der bewusste Umgang, den wir vermitteln möchten."