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Gedächtnis-Genies: So lernen Kinder

Kinder sind kleine Gedächtnis-Genies, das weiß jeder Erwachsene, der schon einmal versucht hat, gegen ein Kind im Memory zu gewinnen. Warum aber lernen Kinder dann nicht alles ganz leicht, zum Beispiel, wenn sie in die Schule kommen? Erfahre hier, wie das kindliche Gedächtnis gefüttert werden will.

Autor: Maja Roedenbeck

Lernen ist nicht gleich Lernen: Die Neurodidaktik kennt die Gesetze

Maedchen Bibliothek Lernen
Foto: © iStockphoto.com/ JohnArcher

Kinder sind in vielerlei Hinsicht faszinierende kleine Wesen, die uns Erwachsene immer wieder in Erstaunen versetzen. Ihr Gedächtnis zum Beispiel – phänomenal! Während unsereins verzweifelt versucht, sich daran zu erinnern, wo der Autoschlüssel abgeblieben ist, lernen sie innerhalb von drei, vier Spieldurchgängen das neue Hubschrauber-Quartett auswendig, kennen Rotordurchmesser, maximale Stundenkilometer und vier weitere Vergleichsgrößen von 32 Modellen. Schon Dreijährige merken sich siebensilbige Dinosauriernamen und ordnen sie den richtigen Abbildungen in der entsprechenden "Wieso? Weshalb? Warum?"-Ausgabe zu. Genial, denkt man als Elternteil und reißt schon mal vorsorglich jeden Artikel über Hochbegabung aus der Zeitung. Aber nur so lange, bis der Nachwuchs in die Schule kommt und sich mit dem kleinen Einmaleins und ersten Grammatikregeln oder Vokabeltests konfrontiert sieht. Denn dann scheint bei vielen kleinen Gedächtnisgenies plötzlich ihr Talent zu versagen.

Wieso bleibt der 'Brachiosaurus' hängen und die Lateinvokabel nicht?

Wie kann das sein? Stellt sich das Kind dumm? Ist es einfach nur faul? Oder wurde ein "Zeitfenster" verpasst, um eine vorhandene Fähigkeit ausreichend zu fördern? Dreimal nein. Das (Kinder-)Gedächtnis funktioniert, wenn’s ums Pauken geht, nach eigenen Gesetzen, mit denen sich eine ganze Wissenschaft auseinandersetzt: die Neurodidaktik. Und wer diese Gesetze kennt, versteht erstens, warum manche Informationen besser hängen bleiben als andere, kann seinem Nachwuchs zweitens helfen, sein naturgegebenes Merk- und Lerntalent auch in ungeliebte Schulfächer hinüber zu retten, und nimmt drittens Anregungen für den eigenen Alltag mit – um sich zum Beispiel in Zukunft besser merken zu können, dass der Autoschlüssel auf dem Kühlschrank liegt. Gerade Punkt zwei hat heute oberste Priorität. "Noch nie hat sich eine Elterngeneration derart intensiv um die (Schul-)Bildung ihrer Sprösslinge gekümmert – das gilt jedenfalls für etwa 80 Prozent der Eltern in Deutschland", schreibt Martin Korte, Professor für zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, in seinem Buch "Wie Kinder heute lernen" (19,95 Euro, Deutsche Verlags-Anstalt). In Sachen Schulerfolg wird nicht mehr auf die Lehrer vertraut, sondern aktiv begleitet.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Neurodidaktik: Auch wenn der Vergleich unermüdlich herangezogen wird, macht es keinen Sinn, das menschliche Gehirn als Festplatte eines PCs zu beschreiben. "Das Gehirn speichert nicht nur Informationen, wie es ein Computer macht, es interpretiert sie automatisch", erklärt die Journalistin Claudia Tebel-Nagy in ihrem Buch "Gedächtnis: Wie Eltern ihr Kind unterstützen können" (10, 00 Euro, Deutscher Taschenbuch Verlag), "Es soll ‚etwas Gescheites’ dabei herauskommen, wenn die vorhandenen Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden." Brauche ich diese Information? Bringt sie mir etwas? Belastet sie mich auch nicht? Das sind Fragen, die das Gehirn stellt, bevor es eine neue Information zumindest erstmal ins Kurzzeitgedächtnis aufnimmt. Und wenn es sich dagegen entscheidet, dann ist das kein Lernboykott, sondern reiner Selbstschutz: "Das Gehirn ist ein ökonomisches Organ. Wenn es alle Außenreize und Informationen, jede alltägliche Kleinigkeit speichern würde, würde es vermutlich explodieren", schreibt Claudia Tebel-Nagy, "in jedem Fall wären wir durch solch eine grenzenlose Reizüberflutung handlungsunfähig." Für Kreativität bliebe kein Platz mehr.

Drei Gedächtnis-Fakten für besseres schulisches Lernen

Und warum schafft es nun der Rotordurchmesser des „Eurocopter AS 532“ ins Gedächtnis eines Schülers, die lateinische Vokabel „carere“ („entbehren“) aber nicht? Wie lässt sich dem Gehirn vermitteln, dass auch schulischer Lernstoff wichtig ist? Die Antworten ergeben sich aus folgenden drei Gedächtnis-Fakten:

  • Ein gesundes Kind, dem die Fähigkeit zu lernen fehlt, gibt es nicht.
    Jedes Kind kommt neugierig und wissbegierig zur Welt. „Kinder lernen immer, wenn auch meist nicht willentlich gesteuert, sondern vor allem unbewusst“, beruhigt Professor Korte, „Das menschliche Gehirn ist darauf ausgerichtet, immer lernen zu wollen, es kann gar nicht anders. Wenn Kinder also unmotiviert im Unterricht sitzen, hat das gute Gründe.“ Der Lernraum Schule ist dann meist durch Misserfolge, ein schlechtes Verhältnis zum Lehrer oder zu den Klassenkameraden negativ besetzt.
    „Stress ist die schlechteste Lernbasis“, erklärt der Experte, „Unter Stress schraubt das Gehirn sein Leistungsvermögen dramatisch herunter. Es verweigert sich den lernfördernden Reizen und verliert an Assoziationskraft.“ Es gilt also, die angeborene Beigeisterung für neues Wissen in die Schulzeit hinüber zu retten. Die einen Eltern nehmen sich die Zeit, sich für ein besseres Bildungssystem zu engagieren. Die anderen sorgen dafür, dass zumindest zu Hause beim Lernen eine gute Stimmung herrscht.
  • Kinder lernen erfolgreich, wenn ihnen die Lerninhalte, das Lernumfeld und die Lernmethoden Spaß machen.
    Ein Hubschrauber-Quartett mit Mama zu spielen (und zu gewinnen), macht Spaß. Kein Wunder, dass Zahlen zur PS-Leistung und Gewichtangaben wie von selbst hängen bleiben! Warum also nicht die englischen Begriffe lion, cat und monkey bei einer Runde Tier-Memory üben? Abwechslung ist der Schlüssel zum Erfolg: Vokabeln auf Kärtchen schreiben und immer wieder durchblättern, Vokabeln auf CD aufnehmen und immer wieder anhören, Vokabeln vielleicht auch mal eine halbe Stunde mit einem PC-Spiel für Englisch-Anfänger üben. Spaß macht lernen auch mit den Gedächtnistrainingsmethoden von Christiane Stenger. In ihrem Buch "Das Gummibärchen im Spinat" beschreibt die mehrmalige Jugendweltmeisterin im Gedächtnissport, wie sie sich Geschichtsdaten, Gedichte oder ganze Abbildungen aus dem Biologiebuch einprägt. Und zwar, indem sie sich lustige Geschichten dazu ausdenkt: „Bilder können das Lernen unterstützen, weil sie uns leicht in Erinnerung bleiben. So lernt man viel besser, wenn man Merkinhalte nicht nur mit etwas Bekanntem verknüpft, sondern sich diese bildlich vorstellt.“ Bei den Jahreszahlen funktioniert das zum Beispiel so, dass jeder Ziffer ein Bild zugeordnet ist. Die 1 ist ein Baum, die 4 ein Schaf, die 9 ein Luftballon und die 2 ein Schwan. Die Tatsache, dass Kolumbus im Jahr 1492 Amerika entdeckt hat, merkt sich Christiane Stenger so: „Kolumbus sitzt auf einem Baum (1). Er beobachtet das Schaf (4), das einen Luftballon (9) an den Schwan (2) bindet, weil dieser nach Amerika fliegen möchte.“ Je verrückter die Geschichte, desto besser kann man sie sich merken. Und wenn die ganze Familie hilft, sich solche Eselsbrücken auszudenken, sind Lachkrämpfe (und gute Lernergebnisse) garantiert.
  • Kinder lernen erfolgreich, wenn sie motiviert sind.
    Nun glauben viele Eltern, ihr Kind mit Belohnungen motivieren zu müssen: zwei Euro für jede gute Note. Doch das bewirkt genau das Gegenteil: Das in Aussicht gestellte Geschenk hindert das Kind daran, sich selbst zu motivieren. „Damit werden Spaß, Wohlgefühl und mögliche innere Zufriedenheit als Motivatoren verdrängt und das Streben auf die äußere Belohnung gelenkt“, warnt Professor Martin Korte von der TU Braunschweig, „Doch solche äußeren Anreize nutzen sich schnell ab.“ Irgendwann reichen die zwei Euro nicht mehr, die Geschenke werden immer größer. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Ein Kind bringt von Geburt an die Fähigkeit mit, sich selbst zu motivieren. Es lernt schließlich nicht laufen, weil die Eltern mit Eurostücken winken, sondern weil es laufen können möchte und jeder kleine Erfolg von ein paar Schritten Belohnung genug ist. Ein dickes Lob an der richtigen Stelle, so der Experte, bringt viel mehr. Gerade unerwartete Erfolge, die entsprechend gewürdigt werden, prägen sich als positive Erlebnisse ein und dienen als Motivation für die Zukunft. „Hirnforscher haben nachgewiesen, dass Emotionen beim Lernen eine entscheidende Rolle spielen“, erläutert Journalistin Claudia Tebel-Nagy, „Gedächtnisbildung ohne Emotionen ist gar nicht möglich!“ Nicht umsonst merken wir uns den Text des Liebesliedes, das immer im Autoradio lief, wenn wir mit unserer ersten großen Liebe unterwegs waren, bis in alle Ewigkeit.

Das Kindergedächtnis will mit Input versorgt werden

Dies sind einige der wichtigsten, aber längst nicht alle Erkenntnisse, die die Neurodidaktik zur Lernfunktion des Kindergedächtnisses gesammelt hat. Lernen ist ein komplexer Vorgang, und es dürfte klar geworden sein, dass stures Pauken die am wenigsten Erfolg versprechende Lernmethode ist. Auch wer glaubt, heutzutage müsse man gar nicht mehr lernen, weil man jede gewünschte Information schließlich ganz schnell bei Wikipedia finden kann, liegt daneben: „Wer viel weiß, ist besser imstande, neues mit altem Wissen zu verknüpfen, er kann nicht nur besser abspeichern und erinnern, sondern auch mehr Alternativen denken und damit differenzierter urteilen“, sagt Professor Martin Korte. „Zu wissen, wo man etwas nachschlagen kann, reicht allein nicht aus, da das Gehirn dann vor der Schwierigkeit steht, wo und wie das neue Wissen einzuordnen ist.“ Aus demselben Grund fängt Lernen auch nicht erst in der Schule an. Schon das im Entstehen begriffene Kindergedächtnis will mit Input versorgt werden, damit die in der Schule zu sammelnden Informationen auf fruchtbaren Boden fallen. Liest Mama ihrem Dreijährigen sein Dinosaurierbuch vor, weil er gerade eine Dino-Phase hat, wird er die Namen der Urzeitechsen zwar erstmal nur so lange behalten, bis er seine Leidenschaft für Eisenbahnen entdeckt, doch die einmal angelegten Gedächtnispfade bleiben erhalten. „Bis zum Erwachsenenalter wird sozusagen die Hardware des Gehirns angelegt“, beschreibt Autorin Claudia Tebel-Nagy, „Deshalb ist die Hirnentwicklung heranwachsender Menschen von so prägender Bedeutung.“ Unsere Hirnstrukturen ändern sich ständig, weil sie sich an aktuelle Erfahrungen und Umgebungen anpassen. Doch am flexibelsten ist das Gehirn in jungen Jahren.

Buchtipps zum Thema Kindergedächtnis

  • Claudia Tebel-Nagy: "Gedächtnis: Wie Eltern ihr Kind unterstützen können"
    (10,00 Euro, Deutscher Taschenbuch Verlag)
    Kompaktes Büchlein, das auf 125 Seiten Hintergrundinformationen und praktische Tipps und Tricks für den (Schul-)Alltag vereint. An die wichtigsten Erkenntnisse der Hirnforschung reiht sich ein Gedächtnistest für Sieben- bis Zwölfjährige, der Aufschluss darüber geben soll, wo der Nachwuchs momentan steht. Der folgende „Aktionsplan“ erklärt konkret, wie Schüler ihre Gedächtnisleistung verbessern können – und da spielen nicht nur Gehirnjogging-Übungen, sondern auch die gesunde Ernährung, Methoden zum Stressabbau und der aufgeräumte Schreibtisch eine Rolle. Tebel-Nagy beantwortet Fragen wie: Welche Rahmenbedingungen sind für das Lernen günstig? Was erreicht man mit mechanischem Pauken? Wie wichtig ist eine gute Beziehung zum Lehrer? Welchen Einfluss haben Fernsehkonsum und Computerspiele auf das Lernen? Warum versagt mein Kind plötzlich bei Klassenarbeiten? Fazit: Viele hilfreiche Gedankenanstöße auf engstem Raum – man darf nur nicht den Fehler machen, den Nachwuchs mit lauter engagierten Tipps für bessere Lernerfolge zu nerven. Denn das Motto über allem lautet: Lernen muss positive Gefühle erzeugen, damit es funktioniert.
  • Martin Korte: "Wie Kinder heute lernen: Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß - Das Handbuch für den Schulerfolg"
    (19,95 Euro, Deutsche Verlags-Anstalt)
    Ausführliches 350-Seiten-Werk, in dem kein Aspekt des kindlichen Lernens ausgelassen wird. Die Kritik am deutschen Schulsystem findet ebenso ihren Platz wie eine Einschätzung der Aussagekraft von Intelligenztests. Wissenschaftliche Erkenntnisse rund ums Kindergedächtnis werden leicht verständlich und mit vielen Beispielen aufbereitet, auch Unterschiede zwischen lernenden Jungs und Mädchen werden thematisiert. Mit konkreten Tipps hilft der Autor bei Fragen wie: Wie reagiere ich richtig, wenn mein Kind schlechte Noten mit nach Hause bringt? Wie können wir den Schultag gemeinsam vorbereiten, um den Lernerfolg möglich zu machen? Welche weiterführende Schule ist für mein Kind die richtige? Praktische Hinweise für den Alltag bilden einen Gegenpol zu den neurowissenschaftlichen und psychologischen Kapiteln: Welche Vitamine und Nahrungsmittel helfen beim Lernen? Wie viel Fernsehen und Computer verträgt ein Schüler? Zwei abschließende Extra-Kapitel beschäftigen sich mit Lernstörungen und Hochbegabung. Ein umfassender, sehr empfehlenswerter Ratgeber – wenn man als Eltern die Zeit findet, ihn zu lesen.
  • Christiane Stenger: "Das Gummibärchen im Spinat: Gedächtnistraining für Kinder"
    (12,90 Euro, Campus Verlag)
    Die Autorin ist mehrmalige Jugendweltmeisterin im Gedächtnissport. Mit zehn Jahren begann sie, ihre Denk- und Merkfähigkeit zu trainierten und machte mit 16 ihr Abitur. In diesem Buch führt sie Kinder ab 8 Jahren mit einfachen Übungen in die Welt des Gedächtnistrainings ein. Fünf Detektivgeschichten beschreiben anschaulich, welche Methoden helfen können, sich bestimmte Dinge zu merken. Als Amelie zum Beispiel auf ihrem Fahrrad von einem Auto abgedrängt wird, merkt sie sich die Buchstaben auf dem Nummernschild mit einem lustigen Bild und kann der Polizei später einen wertvollen Hinweis geben: N wie Nashorn und M wie Meer – Ein Nashorn steht am Meer, trinkt von dem Wasser und wundert sich, dass es so komisch schmeckt. Zwischen den Geschichten gibt es abwechslungsreiche Übungen, die zeigen, wie zum Beispiel auch Gedichte oder Abbildungen im Biologiebuch memoriert werden können. Wie merkt man sich, dass Eisbären am Nordpol und Pinguine am Südpol leben? Oder dass Kolumbus im Jahr 1492 Amerika entdeckt hat? Christiane Stenger erklärt es. Ihr Buch ist als Anregung gedacht, um Kindern zu zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann. Allerdings brauchen die achtjährigen Anfänger sicher die Unterstützung ihrer Eltern, um zu verstehen, wie sie die Techniken auch im Schulalltag einsetzen können. Abgesehen davon, dass es sicher lustiger ist, sich die absurden Geschichten zum Memorieren eines Autokennzeichens in der Gruppe auszudenken.