93

Hallo,

mein Standpunkt dazu ist, dass über solche Übergriffe geredet werden muss. Diese dürfen nicht stillschweigend gebilligt und müssen auch nicht in Kauf genommen werden. Ich hoffe doch sehr, dass niemand hier in dieser Diskussion die Ansicht vertritt, dass das zu "Dingen des alltäglichen Lebens" gehört, welche man(n)/Frau einfach aushalten oder zu ertragen lernen muss, sofern sie denn passieren. Auf der Erlebensebene führen solche Übergriffe zu Gefühlen wie Erniedrigung, Herabwürdigung, Ekel, Scham und einem (vorübergehendem) Verlust der physischen Integrität. All das ist aus den Beiträgen Betroffener herauszulesen. Ich mag nicht akzeptieren, in einer Welt zu leben, in der das zum Normalfall deklariert oder unter "shit happens" verbucht werden soll.

Soweit meine Gedanken dazu.

LG

117

Ich finde, die #metoo Kampagne eher schädlich als in irgendeiner Form nützlich. Und zwar aus einer ganzen Reihe von Gründen, die ich hier einmal aufzuzählen versuche:

1. Die Unschuldsvermutung - zentrale Säule jedes Rechtsstaates - wird völlig ausgehebelt, bereits eine Reihe von Anschuldigungen reicht aus, um Menschen zu ruinieren, Beweise werden im Einzelfall nicht eingefordert. Auch das ist eine Form von Gewalt - ob diese nun gerechtfertigt ist, wird überhaupt nicht überprüft.

2. Die Diskussion ist weitestgehend nicht Genderneutral geführt. Und genau damit machen sich viele Feminista (ich hoffe, das ist der korrekte, genderneutrale Ausdruck) selbst unglaubwürdig - wenn ich in allen Diskussionen, in denen Genderneutralität meinem Standpunkt von Vorteil ist, darauf bestehe, mache ich mich extrem unglaubwürdig, wenn ich sie nicht mehr anwende, weil ich geschlechtsspezifische Vorwürfe erheben möchte. Damit wird viel wertvolle Arbeit im Sinne der Gleichberechtigung argumentativ zerstört, in dem die Argumentierenden sich selbst als tendenziös entlarven.

3. Als Mann, der langjährig in der Pflege arbeitet, im Team als Fachkraft eine Führungsposition für Kollegen einnehme und junge Menschen ausbildet (Staatsexamen als Altenpfleger und Staatsexamen als Praxisanleiter für Pflegeberufe sowie als Professional Assault Response Trainer Ausbilder für Prävention von- und Umgang mit Gewaltsituationen); bin ich ständig mit dem Thema konfrontiert.
Sei es, weil Patienten (und Angehörige) meine Kollegen und mich in unserer Funktion als Personal zum Objekt ihrer Übergriffe machen, sei es, weil Menschen mit entsprechenden Krankheitsbildern die Hemmmechanismen im Gehirn abhanden gekommen sind und sie zu einer moralischen Selbstreflektion ihres übergriffigen Handelns aus organischen Ursachen gar nicht in der Lage sind, oder sei es, weil ich mir als Ausbilder Gedanken machen muss, ob mir wohl eine Anzeige wegen Belästigung droht, wenn ich eine Schülerin nach einem Fehlverhalten zurecht weise und sie sich an mir rächen möchte.

4. Persönlich ärgert mich dazu noch, dass das, was als Bewegung begonnen hat, zum Hype verkommen ist. #metoo ist nicht die Ice-Bucket-Challenge, aber mir kommt es mittlerweile so vor, dass jeder C-, D-, und F- Prommi meint, seinen Saft dazu geben zu müssen. Und so wird jedes misslungene Kompliment oder tölpelhaftes Bekunden von Interesse zur sexuellen Belästigung uminterpretiert, nur damit fra/man bei dem Hype mit dabei sein kann.

5. Auswirkungen auf die genderspezifische Sozialisation: Vor allem Männer, die sich in ihrem Rollenverständnis unsicher sind, werden durch die Diskussion weiter verunsichert. Ist ein Kompliment erwünscht oder bereits Belästigung? Wie kann dem Bedürfnis nach gegenseitiger sexueller Betätigung in einer Form Ausdruck verliehen werden, die nicht zur Strafanzeige oder Zerstörung der eigenen Reputation führt?
(Aus meinem beruflichen Verständnis heraus bin ich der Überzeugung, dass es keine illegitimen Bedürfnisse gibt - erst das Umsetzen der Bedürfnisse in Handlungen führt zu einer moralischen Bewertbarkeit).
Ich unterteile sexuell belästigende Situationen für den Zweck meiner Argumentation in zwei Kategorien: Fehlinterpretation und böswilliger Übergriff.
Gerade die oben genannte Verunsicherung führt zu Situationen, in denen Fehlinterpretationen als Übergriffe wahrgenommen werden. Entweder deutet der Handelnde ein Signal fälschlicher Weise als Einladung zur Handlung, oder eine Handlung wird fälschlicher Weise als sexuell motiviert wahrgenommen. In beiden Fällen ist das Verhalten - wenn auch als unangenehm empfunden - nicht schuldhaft.
Ein böswilliger Übergriff hingegen ist schuldhaft und gehört entsprechend gesühnt.
Und genau diese Grenze verwischt die #metoo Diskussion nur allzu leicht.
ABER: die meisten böswilligen Übergriffe werden von Menschen verübt, die in ihrem Kern zutiefst verunsichert sind. Ist das Vorantreiben dieser Verunsicherung also Zielführend? Ein Gedanke, über den es sich nachzudenken lohnt, bevor aus allen Rohren auf jeden gefeuert wird, der ein (subjektiv wahrgenommenes) Fehlverhalten zeigt. (Natürlich ist ein objektives Fehlverhalten Teilmenge der Menge an subjektiv wahrgenommenen Fehlverhalten).

Persönliche Wertung:
Wo stehen wir also nun mit dem #metoo-Hype?
Darf ich jetzt thematisieren, wenn mir eine Patientin in den Schritt fasst, oder unterliegt das immer noch der Vertraulichkeitspflicht? Wäre die Situation moralisch eine Andere, wenn ein Patient einer Kollegin in den Schritt fasst?
Wie gestalte ich ein Fachgespräch, in dem ich einer minderjährigen Schülerin aus konservativer Erziehung (Sexualität aus religösen Gründen tabuisiert) die Anatomie der menschlichen Sexualorgane erläutern muss oder die Ursachen für das spezifische Sexualverhalten unserer Patienten erklären?
Wie demonstriere ich kinästhetische Techniken zum rückenschonenden Rollstuhl-Bett-Transfer, ohne das mein Gegenüber sich dabei zu nahe getreten fühlt?

Danke an alle, die diese Wall of Text so spät in der Diskussion über sich ergehen lassen haben, ich würde mich über Eure Meinungen freuen.

118

MeToo hat aus meiner Sicht zunächst einen Impuls gesetzt, der eine gesellschaftspolitische Debatte angestoßen hat, die längst fällig war.

Dem liegt keine Bewegung zugrunde, die in irgendeiner Form organisiert ist oder eine einheitliche Position vertritt, entsprechend werden aus jedem möglichen Blickwinkel verschiedene Meinungen vertreten und es existiert nicht mal eine einheitliche Positionierung, die man Frauen oder Männern zuordnen könnte, wie man auch hier wunderbar im Thread sehen kann. Immerhin gibt es jetzt eine Debatte, Schweigen ist jedenfalls keine Lösung.

Daher kann ich auch mit deinen Ausführungen auch wenig anfangen. Vielleicht finden sich ja noch andere User, denen das besser gelingt.

Den folgenden Teil habe ich allerdings dann gar nicht mehr verstanden:
Du führst wörtlich aus: "die meisten böswilligen Übergriffe werden von Menschen verübt, die in ihrem Kern zutiefst verunsichert sind. Ist das Vorantreiben dieser Verunsicherung also Zielführend?"

Habe ich es falsch verstanden oder möchtest du hier wirklich suggerieren, man müsse die deiner Meinung nach falsch laufende Diskussion beenden, weil sonst Straftäter noch häufiger straffällig werden bzw. bisher hiervon unbeleckte Männer plötzlich zum Täter werden?
Außerdem würde mich interessieren, worauf du dich stützt, wenn du meinst, bei den Tätern handele es sich überwiegend um im Kern verunsicherte Menschen.

Ich habe mich an der MeToo-Kampagne nicht beteiligt. Über eigene Erfahrungen habe ich erstmals hier im Forum geschrieben. Der MeToo-Thread war tatsächlich auch Auslöser meiner Anmeldung hier im Forum, in dem ich allerdings schon lange vorher mitgelesen habe.

Nachdem immer wieder – jetzt unabhängig von deinem Beitrag – von Fehlinterpretationen und Verunsicherung die Rede ist, möchte ich auf das eigene Erlebte eingehen.

Was mir dauerhaft in Erinnerung geblieben ist, war das ohnmächtige Gefühl, als ich im Alter von 19 Jahren am Spätnachmittag auf den Bus gewartet habe und an der Haltestelle ein Mann mir ins Gesicht geglotzt und dabei onaniert hat. Ich bin weggelaufen. Einen ähnlichen Vorfall gab es mal in der Nacht in der Straßenbahn. Ich bin ausgestiegen und habe wieder nichts gemacht.

Schlimmer fand ich die Sache beim Frisör, zum einen, weil ich erst 14 war, vor allem aber, weil das die anderen Angestellten mitbekommen haben und die Kunden und keiner hat was gesagt.

Weiteres Beispiel: Als ich als Teenager in der nächsten Großstadt einkaufen war, fragte ein älterer Mann im Vorbeigehen: willst du ficken?

Klar kann man hier jetzt sagen: aber du bist ja nicht mal angefasst worden, Klappe halten, denn andere hat es schlimmer erwischt? Nein, ich wünsche mir, dass dergleichen eben nicht mehr totgeschwiegen wird und so klarer wird, dass sich die Gesellschaft ändern muss und wir alle, Männer und Frauen dazu beitragen müssen, dass eben nicht mehr nur verlegen zur Seite geschaut wird.

Geschrieben habe ich aber auch hier nur über die Vorfälle, die mich am wenigsten belastet haben, die Geschichte, die schlimmer ausging, behalte ich weiterhin für mich.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand meine Erfahrungen nicht als das versteht, was es war, nämlich sexuelle Belästigung, die man doch gerne den eigenen Töchtern, Freundinnen, Ehefrauen ersparen würde. Dergleichen geschieht derzeit weitgehend straffrei, weil aus den hier im Thread auch gut erkennbaren Gründen selten angezeigt wird und die Bearbeitung dieser Fälle durch die Strafjustiz für das Opfer extrem belastend sind. Das liegt wiederum in der Natur der Sache, weil es eben praktisch oft sehr schwer ist, die Tat und vor allem das Verschulden schwer nachweisbar ist (klassische Behauptung: die wollte das doch, im Sinne deiner „Fehlinterpretation“). Um den Rechtsstaat musst du dir also keine Sorgen machen, der hat mehr mit der Dunkelziffer zu kämpfen.

Zurückblickend kann ich sagen, dass ich die geschilderten Vorfälle, die mich persönlich betroffen haben, im Alter von unter 22 erlebt habe. Danach hatte ich weder im beruflichen Umfeld noch sonst irgendwo Belästigung erlebt, weder am eigenen Leib, noch erkennbar für mich in meiner Umgebung.

Mein Verhältnis zu Männern hat das übrigens nicht beeinträchtigt. Zwar habe ich nicht von meinen Erfahrungen erzählt, aber ich habe beruflich immer wieder damit zu tun. Bisher hatte ich mit keinem Mann persönlich zu tun, der nicht zwischen einem Kompliment und Belästigung unterscheiden konnte. Und wie ich auch an anderer Stelle geschrieben habe: auch Jungen und Männer werden Opfer. Als ich da zum ersten Mal einen Vorfall erlebt habe, bei dem sich ein junger Mann gewunden hat, bin ich eingeschritten und war dann gerne der moralinsaure Spielverderber.

Ich habe mir das jetzt alles gar nicht mehr durchgelesen, bestimmt ist der Beitrag gespickt mit Schreibfehlern und schwurbelig ohne Ende. Mich bewegt dieses Thema und es tut mir gut, darüber zu schreiben.

120

Hallo Badenserin, zunächst einmal: danke für Deine Antwort und dafür, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, Dich mit meinen Gedanken auseinander zu setzen.

Um Deine Frage zu beantworten:

Ich möchte auf keinen Fall, dass die Diskussion beendet wird, sexueller Missbrauch ist eine schwerwiegende Sache und das totschweigen und tolerieren durch die Gesellschaft sollte jedem verantwortungsbewussten Menschen schwer im Magen liegen. Allerdings finde ich es für eine Diskussion wenig hilfreich, wenn Menschen aus Profilierungssucht oder Herdentrieb jedes empfangene Kompliment zur Belästigung umdeklarieren und dies stellenweise Argumentativ mit echter sexueller Gewalt auf eine Stufe stellen. Dadurch nutzen sie der Diskussion nicht, sondern nehmen viel mehr in Kauf, dass die Opfer echten Missbrauchs nicht mehr ernst genommen werden. Bewusst habe ich hier den Vergleich zur Ice-Bucket-Challenge heran gezogen, denn manche Äußerungen in den weiten des Internets haben den dumpfen Beigeschmack, dass hier einfach auf den Hype-Train aufgesprungen wird.

Zur Erklärung meiner Aussage ("die meisten böswilligen Übergriffe werden von Menschen verübt, die in ihrem Kern zutiefst verunsichert sind"): ein selbstsicherer, in seinem Rollenverständnis gefestigter Mensch hat wenig intrinsischen Anlass dazu, übergriffig zu werden. Gewalttäter - dazu zähle ich durchaus auch Menschen, die zu sexuellen Übergriffen neigen - sind selten solche gefestigten Persönlichkeiten.
Oder um es deutlicher zu sagen: wer sich Anderen gegenüber (sexuell) aggressiv verhält, ist zumeist innerlich ein armes Würstchen, der seine Unsicherheit mit Aggression überdeckt.
Der Nachsatz ("Ist das Vorantreiben dieser Verunsicherung also Zielführend?") ist, zugegebener Maßen, recht provokativ - aber die Diskussion soll doch auch zum Nachdenken provozieren, oder?
In unserer Gesellschaft sind die Rollenbilder im Wandel - durchaus zu recht. Aber dieser Wandel birgt auch Risiken, und auch diese werden totgeschwiegen. Ich möchte zum Nachdenken und Diskutieren auch über diese Risiken anregen - Verunsicherung schafft definitiv keine Sicherheit.
Und die aufgeheizte #metoo Diskussion kann für ungefestigte Menschen extrem verunsichernd sein. Wenn aber ein Mensch das Gefühl vermittelt bekommt, jede Form der sexuellen Annäherung berge nahezu ohne Unterscheidung das Risiko der Ächtung, wie wird sich das auf sein Verhalten auswirken? Darüber sollte auch nachgedacht werden.

Du fragst, worauf ich meine Aussage, Gewalttäter seien unsichere Persönlichkeiten stütze? Auf meine langjährige berufliche Praxis als Pfleger, auf meine Erlebnisse als Trainer im Bereich Gewaltprävention (dazu zählt auch sexuelle Gewalt und auch die Nachbereitung nach erfolgten Übergriffen), auf meine jahrzehntelange Erfahrung als Kampfsportler - und zuletzt auf den pflegerischen, sozialwissenschaftlichen und psychologischen Konsens zu der Ursachen von Gewalt.
Ich werde jetzt nicht meine Lehrbücher aus dem Regal kramen und meinen Äußerungen mittels Literaturzitaten eine wissenschaftliche Tünche verleihen - das wäre Angeberei. Stattdessen versichere ich Dir aus meiner beruflichen Erfahrung: mir ist in all den Jahren kein übergriffiger Mensch begegnet, den ich als sichere, gefestigte Persönlichkeit bezeichnen könnte. Nicht ein Einziger.

Die Fälle, die Du schilderst, würde ich in die Kategorie der böswilligen Übergriffe einordnen - hier liegt definitiv ein Schuldhaftes Verhalten seitens des Handelnden vor.

Als Fehlinterpretation bezeichne ich eher Situationen, in denen ein kommunikatives Problem vorliegt: ein Lächeln wird als Einladung fehlinterpretiert, sein Interesse (durch Kompliment, Anmachspruch oder Berührung) zu bekunden oder eine notwendige oder unfreiwillige Berührung wird als Übergriff fehlinterpretiert.

Klare sexuelle Handlungen ohne die Zustimmung aller Beteiligten fallen für mich immer unter die Kategorie böswillig, ebenso sexualisierte Handlungen oder Äußerungen gegenüber nicht sexuell selbstbestimmter Personen.

Ich hoffe, Du nimmst meine Gedanken nicht zu sehr als Gegenposition zu Deinem Post wahr - auch mir ist die Diskussion über dieses Thema wichtig.

weitere Kommentare laden