Diagnose Autismus

Hallo, ich habe mich aus familiären Gründen kürzlich mit dem Thema Vor-, und Nachteile der Diagnose Autismus beschäftigt.
Dabei bin ich gefühlt nur auf Nachteile gestoßen.
Außer evtl Hilfen im Bereich Schule konnte ich keinen wirklichen Vorteile finden.
In Verbindung zu den m.M.n. wirklich heftigen Nachteilen wie Versicherungen, Verbeamtung, ggf. Benachteiligungen bei Sorgerechtstreits etc.

Ich habe mich gefragt was Eltern dazu bewegt diese Nachteile für ihre Kinder in Erwägung zu ziehen um eine Diagnose zu erhalten.
Was sind wirklich die Pros die den Contras stark überwiegen?!

LG

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Autismus ist eine Behinderung und bietet, so wie jede andere Behinderung auch, überhaupt keine Vorteile. Wie kommt man denn auf die Idee?

Ein Kind mit Autismus hat gravierende Verhaltensstörungen. Aber nicht nur das. Die gesamte Entwicklung des Kindes ist grundlegend gestört und verläuft anders. Das geht weit über den „Blickkontakt“ hinaus. Nicht wenige Autisten haben eine Essstörung. Fast jeder Autist hat irgendeine sprachliche Besonderheit - egal ob komplett nonverbal, nur einfacher Lautsprache mächtig, oder das ganze Gegenteil davon. Nicht wenige Autisten sind absolute Grobmotoriker. 30% aller Autisten entwickeln eine Epilepsie. Autismus ist eine Behinderung, die den gesamten Körper betrifft und negativ beeinflusst.

Der Autismus selbst IST die Behinderung. Warum diagnostizieren lassen?
Irgendwann kommt man als Eltern an seine Grenzen. Das Kind zeigt ein Verhalten und lässt keine Regeln zu. Es beharrt auf sinnlosen Ritualen, die wirklich sekundengenau, millimetergenau befolgt werden müssen. Wer das noch nie erlebt hat, kennt den Horror nicht. Egal, was man versucht, es gibt keinen Lerneffekt. Das Kind reagiert nie … viele Jahre lang nicht … auf seinen Namen, obwohl jeder Hörtest sagt, dass das Kind hört. Man redet gegen eine Wand - und irgendwann hört man auf mit reden. Das Kind isst nichts - schon seit Geburt trinkt es nur Milch. Aber das Kind ist längst im Kindergarten. Es liegt also klar eine Mangelernährung vor. Nur Nahrungsergänzungsmittel oder Breie akzeptiert das Kind nicht. Nur die eine einzige Pulvermilch.
Die Verwandten und Bekannten machen sich schon lustig und geben „gute“ Ratschläge zu Erziehung des Kindes.

Irgendwann kommt der Kinderarzt oder der Kindergarten oder die Schule (nur wenn die Anzeichen wirklich auffällig sind und die Eltern sehr engagiert kommen die Eltern selbst) und geben den Hinweis das Kind entsprechend diagnostizieren zu lassen. In Kindergarten und Schule käme klar die Forderung nach einer I-Kraft bzw. der Vorschlag alternativ einen Förderkindergarten oder Förderschule zu besuchen. Egal wie … die Diagnose kommt spätestens in der Schule, eben weil die Kinder starke Probleme bekommen.

Ein kognitiv fitter, gering betroffener Autist kann um eine Diagnose oft sogar herumkommen. Deswegen wird das Leben für ihn aber nicht leicht. Das permanente Anpassen ist sehr schwer. Strategien hat dieser Autist nie gelernt.
Ein kognitiv fitter Autist mit Diagnose hat Anspruch auf eine ganze Menge Hilfen, dank derer er später im Leben unter Umständen viel besser zurecht kommt, als derjenige ohne Diagnose. Er hat gelernt Gesichtsausdrücke zu deuten, er weiß, wie er mit Streß umgeht und er kennt Techniken, um den worst case selbst rechtzeitig zu erkennen und zu verhindern. Im Erwachsenenleben ist er ziemlich gut integrierbar, u.a. dank der jahrelangen Autismustherapie, die er als Kind und Jugendlicher bekam.
Ein geistig behinderter Autist hat nun nicht nur eine Diagnose, sondern zusätzlich noch eine Retardierung. Doch auch hier macht die Autismusdiagnose Sinn. Ziel der Autismustherapie wäre hier beispielsweise die Lautsprache zu erlernen oder den Unterschied zwischen essbar/nicht essbar zu erkennen.

Eine Verbeamtung bei einem Autisten? Das klappt höchstens im optimalen Fall bei einen Asperger. Wobei ich mittlerweile Eltern kenne, die auf die Diagnose, Pflegegrad und SBA verzichtet haben und als das Kind erwachsen wurde, ging gar nichts mehr. Und dann war die Diagnose unheimlich schwer zu bekommen. Mal ganz abgesehen davon dass die Eltern 2 Jahrzehnte lang care-Arbeit verrichtet haben, die normalerweise vergütet worden wäre und die Rentenpunkte gebracht hätte.
Bei Sorgerechtsstreits? Mmh…also Schwerbehinderte dürfen das Sorgerecht innehaben. Auch Autisten. Es gibt sehr viele Eltern mit Autismus.

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Was für ein extrem guter Beitrag!

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Danke, besser kann man es nicht zusammenfassen.

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Nachteilsausgleich, Förderschwerpunkt, Schulbegleitung, Finanzierung von Therapien und ggf. Medikation, Kurzzeitpflege...?

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Prävention von Folgeerkrankungen, das Wissen, warum man anders ist.

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Stichwort Depression und der beliebte Zusammenbruch im mittleren Alter, wenn die Speicher überlaufen und nie was 'gelöscht' werden kann aufgrund des Autismus.

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Weißt Du, manchmal hat man auch keine Wahl. Unser Kind war im Lockdown so auffällig (es gab davor auch schon einige kleine Auffälligkeiten, bei denen man als Eltern sich noch sagen konnte "hui unser Kind ist aber ganz schön fordernd". Wir haben uns an den Kinderarzt gewandt, und er hat uns gesagt, gut, erstmal Ergotherapie aber auch Überweisung zum SPZ. Und dann ist man drin. Am Ende hat man dann die Diagnose und ja, wir haben damit gehadert, weil wir die Nachteile gesehen haben. Und unser Kind erstmal auf den ersten Blick für Fremde keine Besonderheit aufweist. Beliebt, soziale Kontakte, gehört zu den Besten in der Klasse. ABER: Mädchen sind sozial sehr angepasst, sie maskieren sich im Alltag um nicht aufzufallen. Das führt daheim oft zu Situation, wo es zu Meltdown und Overloads kommt. Die Diagnose hilft uns Eltern zunächst einmal besser damit klar zu kommen. Es ist nicht unsere Schuld. Es ist nicht auch die Schuld unsere Tochter. Für sie ist der Alltag unglaublich anstrengend und unsere Aufgabe als Eltern ist es, ihr ein Sicherheitsnetz im Alltag zu spinnen, damit sie unbeschadet heranwachsen kann. (Ich rede hier von Asperger) Mädchen sind unterdiagnostiziert, eben weil sie so gut maskieren können. Das kann aber später unerkannt zu schwerwiegenden Problemen, wie Magersucht, Depression etc führen. Die Diagnose hilft uns, unproblematisch die Hilfestellung zu bekommen, die wir als Familie brauchen. Versicherungen können in der Tat ein Problem darstellen, aber auch dafür wird es Lösungen geben. ".

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... editiert vom Urbiua-Team ... Nicht-Neurotypisch zu sein ungleich Kreberkrankung. Das Problem ist die unflexible und oft wenig inklusive Umgangsweise mit Nicht-Neurotypischen, nicht die Tatsache, dass jemand autistisch ist. Betroffene sind ausgesprochen unterschiedlich, nicht jede/r ist durch die Besonderheiten per se "behindert". Ob sich jemand als behindert erlebt, sollte die betroffene Person selbst entscheiden.

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Ich arbeite mit Jugendlichen und habe in genau diesem Zusammenhang einmal mit der Mutter eines autistischen Kindes über den "Mehrwert" der Diagnosestellung gesprochen. Antwort: Therapiemöglichkeiten für Eltern und Kinder die das Zusammenleben erleichtern und das Kind im sozialen Umgang anleiten und begleiten. Das Kind dadurch zu einem möglichst selbständigen Menschen zu machen. Und überhaupt erst berufsfähig zu machen. (Sofern das überhaupt möglich ist, je nach Ausprägung)
Autismus ist eine Behinderung mit Pflegestufe usw, die man jemandem extrem schnell anmerkt. Auch für die Kinder ist das Wissen um die Diagnose und die eventuelle Hilfestellung in der Schule und Aufklärung der Mitschüler aus meiner Erfahrung sehr hilfreich.

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Vielen Dank für eure Kommentare.

Ja, es dreht sich vermutlich um Asberger.
Das hätte ich erwähnen können/sollen.
Hätte die Sache wohl etwas eingegrenzt.
Bei stark ausgeprägten Formen mit geistiger Behinderung, körperlichen Einschränkungen, starker Grobmotorik etc. ist es ja vollkommen logisch und offensichtlich da zu therapieren und eine Diagnostik zu machen.

LG

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Auch bei "leichten" Formen von Autismus ist es so, dass diese Person es im Alltag schwerer hat als andere Menschen. Sonst wäre es keine Behinderung, wenn es alles keinen Unterschied machen würde.
Es gibt auch nicht wenige Autisten, die sich im Erwachsenenalter diagnostizieren lassen, weil sie eben Schwierigkeiten haben, und sei es nur besonders viel Kraft aufs Sich-Anpassen aufwenden müssen. Viele sind dann auch im höheren Alter froh über die Diagnose, weil sie sich auch selber besser verstehen können.

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Wenn du sagst, Therapien bzw. Unterstützung hätten nur bei schweren Behinderungen Sinn, das ist doch so, als wenn man sagt, nur sehbehinderte Kinder sollen Unterstützung bekommen, wenn man "nur" schlecht sieht, braucht man doch keine Diagnose, und demzufolge auch keine Brille.
Aber es ist doch viel einfacher für das Kind, wenn es eine Brille bekommt und gut sieht, auch wenn es ohne Brille auch irgendwie (mit mehr Anstrengung und Schwierigkeiten) durch das Leben kommt.

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Komische Frage, entweder dein Kind hat Autismus oder nicht.
Autismus hat keine Vorteile, es ist eine Krankheit, eine Entwicklungsstörung bzw. (je nach schwere) Behinderung. Nur weil man die Diagnosestellung verweigert, bzw. die Augen davor verschließt verschwindet die Krankheit trotzdem nicht.

Wenn das Kind an dieser Krankheit leidet, sollte es behandelt werden (z.B. Verhaltenstherapien) damit es später im Leben, trotz der Einschränkungen, gut klar kommt. Wenn es gesund ist, dann eben nicht.

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"Autismus hat keine Vorteile":
Nun ja, das würde jeder Asperger-Autist in meinem Umfeld vehement bestreiten. Alle wünschten sich zwar oft einen "einfacheren" Weg hinter sich zu haben, aber keiner den ich kenne möchte neurotypisch sein.
Ich habe mal in unserem Familienchat (zwei Neurotypische, sieben Autisten, alle Ü20) im Chat) gefragt, was sie als ihre autismusbedingten individuellen Vor- und Nachteile benennen würden. Die Vorteilsliste wurde ca 8 mal so lang wie die Nachteilsliste ;-)
Ja, wir haben das unglaubliche, persönliche Glück, dass alle "unsere Autisten" gesund und hochintelligent sind, dass alle (wenn auch teils mit Hürden und Umwegen) Abitur und Studium gemacht haben (oder noch studieren) und der Berufseinstieg super geklappt hat. Dadurch fallen sie durchs gängige Raster, sie haben weder eine Störung, noch eine Krankheit oder Behinderung, sie sind lediglich autistische Menschen, welche im Umfeld einer nichtautistischen Mehrheit leben.

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Ich finde die Frage auch seltsam. Entweder eine Behinderung behindert einen nicht, dann ist alles ok oder sie behindert einen und dann braucht es eine Diagnose um zielgerechte Hilfe- und Therapiemassnahmen starten zu können.
Und bei jeder Behinderung gibt es Abstufung. Wenn ein Kind z.B. -2 Dioptrien hat, werden Schwierigkeiten vermutlich erst in der Schule auftauchen und es bekommt eine Brille. Wenn es -6 Dioptrien hat, kann es nicht mehr Pilot werden, wenn es trotz Brille nur 10% Sehkraft hat, gibt es einen Schwerbehindertenausweis. Einfach auf die Diagnose und Sehhilfen zu verzichten, damit das halbblinde Kind später Pilot werden kann, erscheint mir sinnlos. Es würde vermutlich nicht mal das Cockpit finden.

Grüsse
BiDi

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Meine Tochter ist leicht im autistischem Spektrum und gleichzeitig Hochbegabt (nennt sich twice exceptional). Aufgefallen ist uns und der Kita es ca mit 3 Jahren, sie hat einfach immer „anders“ gespielt, war aber sonst in der Sprache und motorisch weit den anderen voraus. Es war anstrengend mit ihr als Kleinkind (Dickkopf) aber keiner hat sie als richtig „krank“ angesehen. Irgendwann später (mit 9) hat die Schule uns gedrängt sie abzuklären (nachdem sie den Schulstoff was ihr gefehlt hat nach Umzug ins Ausland in kürzerster Zeit nachgeholt hat + sie nicht wirklich in die Klasse gepasst hat + sie in der Schule oft nicht mitgemacht hat…)und so kam die Diagnose. Schule freut sich natürlich über jeden mit Diagnose, dann gibt es mehr Geld und Leute. Für meine Tochter hat das absolut nichts gebracht (die Hilfskraft hat sich eher mit schwachen Schüler beschäftigt). Klassenlehrerin hat sie überredet der ganzen Klasse das dann mitzuteilen, dass sie so eine Diagnose hat. Das ging in die Hose und sie bereute es bitter (wurde als Autist geschimpft…)
Jetzt geht sie ins Gymnasium (🙏 ganz andere Umgebung, schlaue Kinder, wir sind heilfroh). Sie hält den Mund und sagt nichts über ihren „Asperger“ (übrigens alte Bezeichnung!) oder HB. In ihrer Freizeit lernt sie Japanisch und zeichnet ganz toll, ihre beste Freundin ist auch HB.
Insgesamt waren die Abklärungen für uns richtig. Sass die HB rauskam, war das eigentliche Glücksgriff - dadurch kam sie in spezielle Programme rein. Die Autismusdiagnose öffentlich zu machen hat ihr nur Nachteile gebracht, da man immer den „Rain Man“ sich dadrunter vorstellt. Und sie ist einfach ein wenig speziell, redet wie ein Erwachsener, interessiert sich nicht für die übliche Kram was Jugendliche in dem Alter interessiert etc. Ich wüsste nicht was man bei ihr therapieren sollte 🤓 , das sagt auch die Psychiaterin die die Abklärungen gemacht hat (die beste weit und breit). Klar, sie wird immer anders auf Sachen reagieren als andere, ihre Art zu denken ist anders. Aber es sind sooo viel mehr Menschen im Spektrum als man so denkt. Also -
Nicht für jeden ist die Diagnose ein Segen.
LG

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Vielen Dank für deinen Beitrag.

„Und sie ist einfach ein wenig speziell, redet wie ein Erwachsener, interessiert sich nicht für die übliche Kram was Jugendliche in dem Alter interessiert etc. Ich wüsste nicht was man bei ihr therapieren sollte“

„ Klar, sie wird immer anders auf Sachen reagieren als andere, ihre Art zu denken ist anders.“

Genau dieses Verhalten kann ich so bei unserem Fall unterschreiben.
HB ist er nicht.
Im sprachlichen Teilbereich hatte er einen Wert von 130 und bewegte sich mit 5 auf einem sprachlichen Niveau von 9 jährigen.
Im Bereich Geschwindigkeit z.B. unter Durchschnitt. Er schweift schnell ab und ist dann in Gedanken versunken.
In den verschiedenen Bereichen war er in dem Bereich zu finden.
Es handelt sich hier wenn dann auch nur um eine leichte Form.

LG

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Geschwindigkeit war bei ihr im Test auch niedriger als alles andere. Die ersten Voraussagen nach der Diagnose waren - sie wird es nicht schaffen ohne Nachteilsausgleich etc etc. Für meine Tochter war schwierig sich um alles organisatorische zu kümmern, hat vieles vergessen/ fand nicht wichtig (zerstreute Professor…) Gegen Nachteilsausgleich haben wir uns gewehrt, ich wollte den Vermerk nicht in ihrer Akte haben.
Übrigens konnte sie zB in Coronazeiten als es Homeschooling war viel besser lernen als sonst in der Schule. Wie war das bei euch?
Jetzt mit 15 macht sie alles alleine, ich kriege nichts mehr mit, sie vergisst nichts, Noten stimmen.

Wenn das Kind nicht leidet, gut klarkommt, würde ich das mit der Diagnose offenlegen gut überlegen.

LG

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