Ich weiß grad gar nichts mehr

Hallo liebe Urbia-Mitglieder,

ich bin ganz neu, lese aber schon länger still mit.

Die Beiträge hier wirken auf mich fast immer sehr vernünftig und ausgewogen, deshalb hoffe ich, dass ihr mir vielleicht helfen könnt. Ansonsten hab ich mir alles einfach von der Seele geschrieben, und dann ist das auch schon mal was :)

Ich bin 20 Jahre alt, habe letztes Jahr die Schule abgeschlossen (Abitur) und wohne bei meiner Mutter, die alleinerziehend ist. Zu meinem Vater habe ich momentan keinen Kontakt, die Beziehung war schon immer schwierig.

Das Verhältnis zu meiner Mutter war meistens relativ gut, nur in letzter Zeit hakt es an allen Ecken und Enden.
Was vielleicht noch wichtig ist: ich leide seit mehreren Monaten unter Depressionen, und war auch schon in stationärer Behandlung. Depressionen und Angststörungen waren hin und wieder meine Begleiter seit ich 9 Jahre alt war, das ist also nicht wirklich neu für mich.

Als Teenie war ich ein echtes Musterexemplar: keine Alkoholexzesse, kein Schwänzen, gute Noten, Mithilfe im Haushalt. Im Nachhinein bereue ich dies etwas, ich habe das Gefühl, dass mir durch die kaum stattfindende "klassische Pubertät" die nötige Abgrenzung zum Elternhaus etwas fehlt...aber das ist Mutmaßung.

Im Herbst beginne ich eine Ausbildung in meiner Heimatstadt. Ich bin auch auf Wohnungssuche, aber der Immobilienmarkt gibt momentan nicht sehr viel her. Dennoch möchte ich die restliche Zeit zuhause nicht im Streit verbringen.

So, ich komme jetzt endlich zur Sache ;)
Das größte Streitthema ist der Haushalt, bzw. die Versorgung des Hundes.
Ich sag mal, inwiefern ich mich einbringe: ich wasche meine eigene Wäsche, putze etwa einmal die Woche das Bad, staubsauge und koche häufig. Die Versorgung des Hundes habe ich inne, incl. Tierarztbesuche, und so weiter.

Ich gebe ganz offen zu, manchmal vergesse ich einfach, etwas zu tun oder wegzuräumen, oder kann mich für mein Leben nicht aufraffen... Das stört mich selbst ungeheuer, aber das ist halt das teuflische an Depressionen, der Wille allein reicht manchmal einfach nicht.

Meine Mutter findet das überhaupt nicht gut.

Nicht weggeräumtes Geschirr, zu lange vor Fernseher oder Computer, zu viel Süßkram oder ähnliche Verfehlungen, waren schon immer Streitthemen.

Manchmal rastet meine Mutter dann regelrecht aus, schreit rum oder ist stundenlang sauer, oder sie hat Tränen in den Augen und sagt, sie schafft das einfach nicht mehr, ihre Arbeit und zuwenig Unterstützung daheim. Dies endete in der Vergangenheit mit Entschuldigungen meinerseits und dem Versprechen, nicht nur dies nie mehr zu tun, sondern ihr in Zukunft noch mehr zu helfen.
Das ist, im Nachhinein betrachtet, wohl der Grund, dass ich nie meine "Wilde Phase" hatte, ich wollte nicht, dass meine Mutter böse auf mich wird, vereinfacht gesagt.

Gestern nun der Höhepunkt: Ich war vormittags bei meiner Psychiaterin, und hatte mich anschließend ins Bett gelegt und gedöst, die Gespräche sind seelisch sehr anstrengend, und auch so bin ich oft müde tagsüber. Ich hatte komplett verbaselt, den Garten auf Hundehaufen zu kontrollieren; meiner Mutter ist das sehr wichtig, da vorbeigehende Leute das sehen könnten.

Sie kam in mein Zimmer und wies mich sauer darauf hin. Ich sagte, ich mache es, wenn ich aufgestanden bin, ich sei sehr müde.

Sie ging wieder und kam ca. 20 min später zurück, schrie mich an, sie habe es jetzt selbst gemacht, das sei doch eine Kleinigkeit, sie habe es mir schon so oft gesagt (stimmt auch), etc.

Wieder etwa 10 min später kam sie wieder, diesmal ging es um die bereits eingetüteten Hinterlassenschaften, die entsorgt werden mussten. Sie schrie wieder, ich würde ja eh nicht schlafen und könnte genauso gut aufstehen und das endlich machen. Ich sagte, sie würde doch auch häufig einfach irgendwo liegen und sich ausruhen. Das könne man überhaupt nicht vergleichen, schließlich ginge sie den ganzen Tag arbeiten und wäre deshalb müde, ich hätte ja keinen Grund. Das tat mir ungeheuer weh, ich war nämlich ein Jahr nicht in der Lage, zu studieren oder zu arbeiten und ich hoffe so sehr, das der neue Anlauf im Herbst klappt.

Die Lage ist seitdem sehr angespannt, irgendwie schmollt sie, oder ist noch sauer, ich weiß es nicht...

Ich weiß sehr gut, dass es junge Menschen gibt, denen es sehr viel schlechter geht als mir. Doch die Situation belastet mich. Ich will auch kein falsches Bild von meiner Mutter vermitteln, sie hat viele gute Seiten und liebt mich sicher sehr.

Ich weiß nicht, ob ich vollkommen überreagiere#gruebel So ähnliche Situationen gab es schon früher. Bin ich überempfindlich? Bin ich total im unrecht? Ich weiß es einfach nicht mehr.

Ich freue mich total auf eure Antworten!

LG
Charlotte

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Charlotte ,

in meinen Augen bist du weder überempfindlich oder im Unrecht noch reagierst du völlig über. Das große Problem scheint bei euch zu sein das die eine Seite die andere nicht richtig versteht. Du bist durch deine Krankheit eingeschränkt und zum Teil fehlt dir die Kraft dich aufzuraffen.

Deine Mutter fühlt sich durch ihre Arbeit, Haushalt und Haus überlastet. Sie kommt von der Arbeit und du liegst vielleicht im Bett weil es dir nicht gut geht. Das sieht bestimmt für deine Mutter danach aus das du sie nicht unterstützt und somit nimmt alles seinen Lauf. Ihr schaukelt euch gegenseitig hoch und ganau das zieht euch wiederum herunter und raubt euch zusätzlich Kraft. Es ist wie ein Teufelskreis aus dem es kein entrinnen gibt.
Ihr braucht gegenseitiges Verständnis und jemand der zwischen euch vermittelt. Vielleicht kann deine Mutter zu einigen Sitzungen deiner Psychiaterin/ Psychologin kommen damit sie dein Krankheitsbild besser versteht und ihr wieder zu einander findet.

Fg blaue-rose

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Hi blaue-rose,

vielen Dank für deine Worte, es hilft echt unglaublich, wenn das mal von einem Außenstehenden beurteilt wird.
Die Idee mit der gemeinsamen Sitzung ist gut, die werde ich umsetzen!
Meine Mutter fühlt sich fast immer im Recht, deshalb ist ein "Profi" wohl wirklich der beste Vermittler, da ich als Tochter einfach nicht als ebenbürtig wahrgenommen werde.

LG
Charlotte

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Hallo Charlotte,

ich drücke dir die Daumen das deine Mutter bereit ist mit zur Sitzung zu kommen und das es dort zu einem vernünftigen Austausch kommt.

Du hast geschrieben das du seit deinem 9. Lebensjahr Depressionen und Angststörungen zeitweise dein Leben begleiten.
Sind denn die Ursachen dafür gefunden und wenn ja, wurde etwas gegen die Auslöser getan?

Wenn du möchtest kannst du mich auch über VK anschreiben.

Fg blaue-rose

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Du wirkst sehr reflektiert und eigentlich hast du das Problem doch schon selbst erkannt.

Es ist Zeit dein eigenes Leben zu führen und auszuziehen. Dann versteht ihr euch auch wieder.
Deine Mutter hat Großes geleistet, eine Tochter allein und wie es scheint sehr liebevoll und harmonsch großgezogen. Sie hat das Gefühl ihre Aufgabe erledigt zu haben und möchte jetzt wieder ein Leben in ihrem Rythmus führen. Deswegen hat sie dich wegen Nichtigkeiten auf dem Kieker. Sozusagen als unbewusste "Absprunghilfe".
Dei Pubertät ist ein Mechanismus zum Erreichen der Adoleszenz, also der Unabhängigket von den Eltern. Dieser Ablösungsprozess ist notwendig um ein gutes und gesundes Leben führen zu können. Nicht umsonst studieren viele junge Leute erstmal auswärts. Räumlicher und emotionaler Abstand ist in dieser Lebensphase gesund und wichtig.

Alles Gute - und du bist eine sehr überlegte, junge Frau, ich bin sicher Ihr schafft das!
LG d.

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Hallo!

Kann Dir Deine Psychiaterin nicht weiterhelfen, oder zwischen Euch vermitteln?

Ich kann schlecht beurteilen, ob Du überreagierst. Mit einer solchen Krankheit habe ich glücklicherweise noch keine Erfahrung gemacht. Für einen gesunden Menschen natürlich, hat es schon den Anschein, dass Du recht wenig tust - keine Arbeit/Ausbildung/Schule, sondern nur einen Teil vom 2-Personen-HH übernehmen. Ich war auch lange ae mit Vollzeitarbeit, der HH muss halt gemacht werden, auch wenn man müde ist (egal weshalb man müde ist) - sonst schiebt man schon nach ein paar Tagen einen Riesenberg an Arbeit vor sich her.

Alles Gute
H.

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"Ich weiß nicht, ob ich vollkommen überreagiere#gruebel So ähnliche Situationen gab es schon früher. Bin ich überempfindlich? Bin ich total im unrecht? Ich weiß es einfach nicht mehr."

deine Depressionen scheinen eine natürliche Reaktion auf deine Lebensweise zu sein. Besser gesagt auf die Lebensweise in der du dich befindest.

Du bist nicht überempfindlich, nur in einem Käfig aus Reaktionen und Emotionen, aus dem du dich nicht befreien kannst. Dazu bräuchtest du Kraft und Abnabelen, was genau auf Grund der Emotionen nicht geht.

Deine Mutter behandelt dich nicht als Kind, nicht als Jugendliche, sondern als moderne Sklavin.
Kenne ich durchaus. Sowohl durch meine Mutter (nicht alleinerziehend) als auch durch mich (alleinerziehend, aber mein Kind ist ein eigenständiger Mensch).

Selbständigkeit bei meinem Kind heißt für mich - mein Kind lernt eigenständig für SICH verantwortlich zu handeln. NICHT mich von vorn bis hinten zu bedienen. Wir haben beide unsere Aufgaben. Wenn es mir zu viel wird, wende ich mich an einen Arzt oder andere Erwachsene. Mein Kind hat die Aufgabe sich um IHRE Belange zu kümmern - wo es wiederum meine Aufgabe ist, sie zu unterstützen.

Du bist NICHT für deine Mutter verantwortlich.

Allenfalls wohnt ihr als WG zusammen. Das hieße ihr beide habt eure Aufgaben, aber sie ist nicht dein Aufpasser, Wärter oder sonstiges. Aufgaben sind wichtig - aber ebenso auch, dass du dich nicht ausnutzen lässt. Bei deinem Arbeitgeber hättest du bei deiner Diagnose einen Krankenschein. Als Haussklave (sorry, ich schreibe es bwusst überspitzt) scheint es nicht zu gelten.

Wie ist es denn, wenn du Fieber hast? Sorgt sie sich dann um dich? oder verlangt sie dann auch, dass du mit dem armen Tier zum Tierarzt gehst? Das "bisschen" Fieber kurz vorm Abkratzen stört doch keinen? (leider kenne ich so einen Fall, wo selbst das nicht gelten würde)

Sprich DRINGEND mit deinem Psychiater.
Mich wundert es nicht, dass du Depressionen bekommen hast. (natürliche Reaktion auf die Lebensweise die von dir erwartet wird) - nicht pubertieren ist nur ein kleiner Teil davon.

Informiere dich auch, ob es Studenten-WGs oder anderes für Ausbildung gibt.

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Du findest also dass es Sklaverei ist wenn eine 20 jährige die nicht arbeitet oder studiert zuhause Aufgaben übernehmen muss während die Mutter für den Lebensunterhalt sorgt?

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Aufgaben übernehmen ist ok.

Es kommt auf das Maß an und wie damit umgegangen wird.

Sie übernimmt ihre Aufgaben, gemeckert wird trotzdem.

Beim Lesen ging ich davon aus, dass es vorrangig der Hund der Mutter ist. Das kenne ich aus dem Bekanntenkreis häufiger. Eltern schaffen sich ein Tier an, erwachsene Kinder sollen sich dann darum kümmern und die Drecksarbeit machen.

Sollte der Hund vorrangig der TE gehören oder es eine gemeinsame Entscheidung für das neue Familienmitglied Hund gewesen sein, finde ich es zwar durchaus ok, dass die TE AUCH den Dreck wegmachen muss, habe allerdings Verständnis, wenn es direkt nach der Therapie nicht geht. Da sollte dann ein Familienrat her und geschaut werden, wie BEIDE entlastet werden können.
Therapie kann anstrengender sein als ein 10-stündiger Marathon.

Herausgelesen hatte ich den Satz, dass die TE es der Mutter ständig recht machen wollte. Dies liegt zwar in ihrer Entscheidung. Kenne ich jedoch nur von Menschen, die um die Liebe der Eltern kämpfen müssen (unbewusst) oder Angst haben, sonst nicht akzeptiert werden, wenn sie nicht genug leisten. Was (bei denen, die ich kennen gelernt habe) soweit geht, dass sie die Drecksarbeit der Eltern mitübernehmen und immer noch das Gefühl haben, ihnen nicht genug zu sein, sich also weiter steigern - und die Eltern es entweder hinnehmen oder gar einfordern, da die Eltern ja die Leid tragenden seien, dass die Kinder sie nicht genug lieben würden.

Wie gesagt, Aufgaben übernehmen ist ok, vor allem ihre eigenen.
Sollte dies jedoch schon so gesteigert sein, dass unklar ist, wer wessen Leben führt, dann wird es schwierig.

Finanzielle Unterstützung ist das eine, Aufgaben das andere. Ist es im Gleichgewicht, passt es. Wird das eine vorgeschoben um das andere sofort!!! oder intensiv einzufordern, wird es gefährlich. Noch dazu, wenn die Forderung so intensiv sind, dass keine Luft mehr bleibt, selbst für sich auf die Beine zu kommen.
Das gilt sowohl für die Person, die die Aufgaben macht. Als auch die Person, die finanziell sorgt, kann in die Enge getrieben werden.

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Ich könnte deine Mutter sein, ich habe selber ein 20 jähriges "Kind" zuhause, welches eine vergleichbar schwierige Ausgangslage hat, ich tippe mal drauf, dass meine Tochter sogar deutlich schwerer zu tragen hat. Auch bei uns gibt es Eskalationen, meine Angst und Verzweiflung, meine Müdigkeit, auch Wut trägt seinen Teil dazu bei, aber wir befinden uns in einem Dialog, wir üben beide den Perspektivenwechsel und verzichten wenn immer möglich auf eine Wertehierarchisierung was Bedürfnisse, Wahrnehmung oder Ansichten anbelangt.

Du sagst, dass du seit du 9 Jahre alt bist unter Depressionen und Angststörungen leidest.
Weiter erzählst du, dass deine Mutter alleinerziehend ist und berufstätig.
Kontakt zum Vater besteht nicht.

Könnte es sein, dass deine Mutter genau so wie du seit mindestens 11 Jahren einen äusserst beschwerlichen Weg geht, mit dir? Voller Ängste, Sorgen, Schuldgefühle und Überforderung?
Mitzuerleben, dass das eigene chronisch Kind krank ist, der gesamte Alltag sich über Jahre hinweg in irgend einer Form immer und immer wieder um das kranke "Kind" dreht, wobei eine psychische Erkrankung für das Umfeld durchaus kräftezehrender sein kann als beispielsweise ein Kniegelenksleiden, das zehrt aus.
Oft, sehr oft, haben Angehörige psychisch Kranker selber keinerlei Unterstützung, kein Psychiater der sie begleitet, stattdessen sind sie Schuldzuweisungen usw. ausgesetzt.

"Normalerweise" ist ein Kind mit 20 Jahren flügge, hat eventuell bereits eine Ausbildung, oder befindet sich im Studium, verfügt oft schon über eigenes Einkommen. Es ist die Zeit der Ablösung, bei aller Liebe kommen auch Eltern an den Punkt, an dem es "einfach Zeit ist", wird der Zeitpunkt des Flüggewerdens verpasst, oder ist es aus gesundheitlichen Gründen (noch) nicht möglich, kann dies zu Spannungen führen, die im Grunde von der Natur dazu gedacht sind, das "Junge" notfalls aus dem Nest zu stossen, wenn es eben nicht zu gegebener Zeit flügge wird.

Ach ja, eine Krankheit/Behinderung akzeptiere ich stets nur als Erklärung, niemals als Ausrede, ansonsten werde ich ziemlich ungeniessbar. Das weiss meine Familie (diverse Autisten gehören dazu) und das weiss mein berufliches Umfeld ( psychisch Kranke usw.). Geben und Nehmen....
Das Kackhäufchen-Problem würde ich auch gelöst haben wollen, wenn du nach der Therapie zu müde bist, dann müsstest DU mir vernünftige Alternativen vorschlagen, sei das eine andere Tätigkeit oder Spaziergänge mit dem Hund, damit er NICHT in den Garten kackt.

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Vielen Dank für die ausführlichen Antworten!
Ich werde mir das alles durch den Kopf gehen lassen, und versuchen, mit meiner Mutter zu einer für beide zufriedenstellenden Lösung zu kommen.
LG
Charlotte