Läuft er immer noch nicht?
Spricht er, krabbelt er, läuft er etwa immer noch nicht? Derlei scheinbar harmlose Fragen können Eltern ganz schön unter Druck setzen. Jumana Mattukat kennt das aus eigener Erfahrung und plädiert hier für mehr Vertrauen ins Kind.
Kinder richten sich immer noch nicht nach Norm-Tabellen

"Läuft er immer noch nicht?" Etwa täglich werde ich mit dieser Frage konfrontiert. Er – das ist Richard, 17 Monate alt, schnellster Poporutscher der Welt und ja, er läuft tatsächlich immer noch nicht. Bisher hat mich das nicht beunruhigt, aber je besorgter sich meine Umwelt zeigt, umso häufiger stelle ich mir die Frage, ob ich mir denn nun doch mal Gedanken machen sollte. In der Tat: Um uns herum haben sich all seine Altersgenossen längst auf den Weg gemacht. Nicht so Richard.
Ein Blick in Remo H. Largos „Babyjahre“ beruhigt mich wieder. Der bekannte Schweizer Kinderarzt schreibt darin, dass zwar die meisten Kinder mit 13 bis 14 Monaten ihre ersten freien Schritte machen, betont aber auch: "Einige Kinder gehen bereits mit acht bis zehn Monaten, andere erst mit 18 bis 20 Monaten." Unglaublich – ein ganzes Jahr kann zwischen zwei Laufanfängern liegen. Das ist der beste Beweis für Largos These: "Jedes Baby ist anders.“
Jedes Baby ist anders
Einerseits würde diesen Satz zweifelsohne jede Mutter unterschreiben, andererseits sind die meisten Mütter beunruhigt, wenn ausgerechnet das eigene Kind aus dem Raster fällt.
Erschwerend kommt die Allgegenwärtigkeit des Rasters hinzu. Es gibt Entwicklungskalender, wohin man schaut. Sowohl die Hersteller von Babynahrung oder -pflegeprodukten als auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung geben diese Infomaterialien heraus. Zwar enthalten die meisten den Hinweis, dass die Angaben nur als Richtlinie zu verstehen seien und sich kein Baby in der gleichen Geschwindigkeit entwickele wie ein anderes, aber die Kalender werden von den Eltern dennoch als Messlatte verstanden. Die Erzieherin Marlies Bisgwa sagt sogar: „Sie machen den Müttern Angst – bewusst oder unbewusst.“ Bei ihrer Arbeit in der Frühförderstelle der Lebenshilfe Limburg trifft Marlies Bisgwa immer wieder auf ratsuchende Mütter.
Letztendlich machen Entwicklungskalender den Eltern die „Defizite“ des Kindes schwarz auf weiß sichtbar und lassen die Angst entstehen, das Kind könne mit seinen ureigenen Fähigkeiten später in der Welt vielleicht nicht bestehen.
Dabei ist eine schnelle motorische Entwicklung kein Zeichen von Qualität: „Wenn ein Kind mit zwölf Monaten toll laufen kann, heißt es nicht, dass es später supersportlich wird.“ Und andersherum ist auch eine Entwicklungsverzögerung nicht zwangsläufig ein Indiz für den zukünftigen Werdegang. Die Erziehungsberaterin berichtet in diesem Zusammenhang von einem Kind, das bis zum Alter von zwei Jahren nicht ein Wort von sich gegeben hatte, aber plötzlich von einem Tag auf den anderen ganze Sätze sprechen konnte: „Dieses Kind wollte wohl erst mal im Kopf üben.“
Mein Kind will nicht laufen – wann ein Arzt eingeschaltet werden sollte, erklärt Kinderarzt Dr. Uhlig in diesem Video.
Konkurrenz unter Müttern
Diese Angst um die Konkurrenzfähigkeit des Kindes ist es wohl auch, die Mütter dazu bringt, untereinander in einen Wettstreit zu treten. Ich erinnere mich an eine Situation in einem Babykurs, den ich mit meinem Sohn besuchte. Mir fiel auf, dass ein Baby sich schon selbst hinsetzen konnte, es war mit diesem Entwicklungsschritt früh dran und ich äußerte das überrascht, aber durchaus freundlich und wohlwollend. Ein scharfes „Das kann sie schon seit drei Wochen“, gepaart mit einem vernichtenden Blick, zeigte mir, dass ich mit solch „unverschämten“ Kommentaren in Zukunft wohl vorsichtiger sein müsse. Es herrscht ein subtiler "Krieg" unter Müttern und Sätze wie: „Meine Tochter schläft durch seitdem sie drei Wochen alt ist“, „Mein Sohn isst schon ein ganzes Gläschen Brei“, und „Er konnte sich schon drehen, als er vier Wochen alt war“, sind die Waffen.
Vernichtend für jede Mutter, deren Kind fünfmal die Nacht wach wird, noch keinerlei Interesse an Essen oder aber keine großen motorischen Fortschritte an den Tag legt.
Natürlich ist man vor Vergleichen nicht gefeit, denn es liegt in der Natur des Menschen, in einen Wettbewerb mit anderen zu treten. Normal ist auch, sich über die einzelnen Entwicklungsschritte seines Kindes zu freuen und stolz darauf zu sein. Klar möchte man seine Freude auch verkünden und mit anderen teilen. Aber Besorgnis erregend ist es, wenn man nicht mehr mit Freude an der Entwicklung der anderen Kinder teilhaben kann oder sogar ein regelrechter Kampf unter den Müttern ausbricht: „Der gesellschaftliche Leistungsdruck durchdringt inzwischen eben auch diesen Bereich. Wenn das Kind nicht 'normal' ist, haben die Frauen Angst, als Versager dazustehen und nicht als perfekte Mutter.“ Marlies Bisgwa warnt: „Mit dem Konkurrenzkampf setzen die Frauen aber nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder einem starken Druck aus.“
Was tun gegen den Konkurrenzdruck?
Es hilft, sich darüber im Klaren zu sein, dass kaum so viel geschummelt wird wie bei den „Qualitäten“ des Kindes. Ohnehin sollte man sich über den Wert dieser kindlichen „Fähigkeiten“ klar werden. Wurdest du je bei einem Vorstellungsgespräch gefragt, wann du sauber geworden bist? Und warum ist es überhaupt etwas Tolles, wenn das Kind nun schon ein ganzes Gläschen isst? Zehn Jahre später sorgen sich die Mütter doch eher darum, dass das Kind zu dick werden könnte.
Wer sein Kind und sich selbst vor verbalen Attacken schützen möchte, sollte in die Offensive gehen: Marlies Bisgwa rät „Wer offen sagt: 'Ja, mein Kind kann das und das noch nicht, aber es wird’s lernen', nimmt anderen den Wind aus den Segeln und erspart sich jede Menge Stress.“
Es zeigt sich immer wieder: Gibt in einer Gruppe eine Mutter beispielsweise zu, dass das Baby noch nicht ein einziges Mal durchgeschlafen hat, berichten plötzlich die meisten anderen auch von durchwachten Nächten. Der Mut zur Wahrheit einer einzigen kann oft einen wahren Lügen-Teufelskreis durchbrechen!
Marlies Bisgwa muss bei ihrer Arbeit immer wieder Eltern von behinderten Kindern Mut machen – Eltern von Kindern also, die nicht einfach nur zwei oder drei Monate später dran sind als der Durchschnitt, sondern von Kindern, die manche Dinge niemals lernen werden. Bezeichnenderweise kann man ihren Rat eins zu eins auf Eltern nicht behinderter Kinder übertragen, nämlich: „Erfreuen Sie sich an den Dingen, die Ihr Kind schon kann, achten Sie nicht auf das, was es nicht kann. Nehmen Sie es so an wie es ist!“
Wer es darüber hinaus noch schafft, schwierige Konkurrenzsituationen mit Humor zu nehmen, der wird mit der Zeit vielleicht insgesamt gelassener sein können. Dabei können nach Marlies Bisgwas Erfahrung Sätze wie „Nein, er hat noch immer keinen Zahn, aber es ist noch keiner zahnlos in den Kindergarten gegangen“ oder ähnliche Reaktionen auf bissig gemeinte Fragen helfen. Überlegen Sie sich entsprechende Kommentare am besten schon im Vorfeld.
Wann besteht Handlungsbedarf?
Natürlich gibt es auch Fälle von motorischen Entwicklungsverzögerungen, in denen tatsächlich Handlungsbedarf angezeigt ist. Dazu muss das Kind nicht unbedingt regelmäßig zur Krankengymnastik. Oft reicht bereits eine einzige Behandlung bei einem Osteopathen oder einem Cranio-Sacral- Therapeuten und schon geht’s weiter in der Entwicklung. Der Wuppertaler Kinderarzt, Dr. Tilo Finkenrath, stellt in diesem Zusammenhang eine einfache Regel auf: „Wenn das Baby in seiner Entwicklung statt eines Fortschritts oder eines Stillstandes (z.B. wegen durchbrechender Zähnchen) eher einen Rückschritt macht; wenn es also etwas bereits Gelerntes nicht mehr kann, dann sollten Eltern dies in jedem Fall medizinisch abklären lassen.“ Meist haben die Eltern haben ein sehr gutes Gespür dafür, was bei ihrem Kind vielleicht nicht ganz in Ordnung ist.
Richard wird mit dem Laufen beginnen, wenn er bereit dazu ist. Mein Vertrauen in diese Tatsache hat sich als richtig erwiesen: Seit gestern Abend macht mein Sohn seine ersten Gehversuche an der Couch entlang.
Weiterführende Infos
- urbia-Baby-Entwicklungskalender
- Entwicklungskalender der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
- Remo H. Largo, „Babyjahre“, Verlag: Piper, ISBN-10: 3492233198, ISBN-13: 978-3492233194
- Diskussion im urbia-Forum: Er krabbelt nicht und läuft nicht