Aufwachsen zwischen den Kulturen
Wo verschiedene Kulturen in Erziehungsfragen aufeinander treffen, können, müssen aber keine Konflikte entstehen. Wie Kinder der multikulturellen Gesellschaft aufwachsen.
Eine multikulturelle Gesellschaft
Yasmines Vater ist Marokkaner, ihre Mutter Deutsche und ihr Lebenspartner Senegalese. Yasmines Kinder sind marokkanisch-deutsch-deutsch und marokkanisch-deutsch-senegalesisch. Demnach eine echte "Hingucker-Familie", wie eine Freundin sie nennt. "Zwei blonde, blauäugige, große und zwei kleine braune Mädchen, ein schwarzer Mann und eine weiße, dunkelhaarige Frau", wie die Mutter von vier Kindern ihre Familie selbst beschreibt. Doch solche "Hingucker-Familien" sind keine Seltenheit. Die heutigen Reiseziele sind unerschöpflich viele Menschen wandern ein oder aus und mit ihnen ihre Kulturen.
Doch was bedeutet dieser offene Wandel der Gesellschaft für Kinder und Kindeskinder? Die Zahl der Eheschließungen zwischen binationalen Partnern steigt ebenso kontinuierlich an, wie die Zuwanderung ausländischer Mitmenschen. Aber prallen in einer multikulturellen Gesellschaft nicht unzählige Erziehungsmethoden aufeinander, und welche Rolle spielt die kulturelle Herkunft bei der Entwicklung eines Kindes?
Der Weg zur eigenen Identität
Am Tag seiner Geburt betritt das Kind den Weg zur Ich-Findung. Auch wenn das nationale Bewusstsein erst in der Pubertät auf sich aufmerksam macht, werden im Kleinkindalter die Grundsteine dafür gelegt. "In den Vorgängen bei der Geburt und in der darauffolgenden Kleinkindphase spielt neben den individuellen Vertrautheiten mit dem menschlichen Denken und Fühlen zweifellos die Kultur eine entscheidende Rolle.", heißt es im Online-Handbuch Kindergartenpädagogik in einem Artikel des Diplom-Psychologen Christian Büttner. Denn sowohl Eltern als auch Erzieher begegnen dem kindlichen Verhalten nach den kulturellen Mustern ihrer eigens erlebten Erziehung.
Was ist Kultur?
In seinem Buch "Multikulturelle Gesellschaft – Multikulturelle Erziehung?" beschreibt Volker Nitzschke Kultur als "(...) ein Gesamt von Sprache, Interpretation der Welt, Leben in dieser Welt, Verhalten zu anderen und Selbstverständnis." Die von der Kultur der Eltern geprägte Erziehung, wirkt sich auf die Identitätsbildung des Kindes aus. Wächst ein Kind in einer interkulturellen Umgebung auf, kann es sich so fühlen als säße es zwischen zwei Stühlen, oder gar, als müsse es sich für einen der Stühle entscheiden. Nutzt das heranwachsende Kind für sich das Beste aus den Kulturen seiner Umwelt, entsteht womöglich eine neue, eine Art Mischkultur.
Was ist Identität?
Prof. Dr. Büttner definiert Identität wie folgt: "Identität als ein bewusstes Selbstkonzept beruht auf der Wahrnehmung der Gleichheit gegenüber den anderen." Diese Selbstwahrnehmung funktioniert aber nur dann, wenn auch die anderen die Gleichheit erkennen. Die Übereinstimmung von Selbst- und Fremdwahrnehmung führt zu immer neuen Anstrengungen, "sich oder die anderen auf diese Gleichheit hin zu verändern."
Was ist Integration?
Auf die Frage, was der Fachberater für Kindergärten, Celal Aktas, unter Integration versteht, antwortet er: "Ich verstehe in diesem Zusammenhang Integration als einen Prozess des Kompetenzerwerbs und der Chancengleichheit in allen Lebenslagen." Während der Duden das Wort Integration "als das Zusammenfügen gleichberechtigter Teile zu einem Ganzen" erklärt, weist Celal Aktas darauf hin, "dass dem Wort sowie dem Umstand Inhalte abverlangt werden, die so nicht ohne weiteres leistbar sind." Denn lange Zeit bedeutete diese Zusammenführung zu einem Ganzen, das Anpassen der ausländischen Mitmenschen an die deutsche Kultur und Gesellschaft. Wo waren denn da die gleichberechtigten Teile? Daher macht Aktas auf die Bedeutung des miteinander Sprechens aufmerksam, "weil in etlichen Jahren der Dialog zwischen den Gruppen versäumt wurde und nach wie vor Kenntnisse auf beiden Seiten fehlen." Erst das miteinander Reden lässt eine Annäherung an die jeweils unbekannte Kultur zu. Toleranz auf allen Seiten scheint die Voraussetzung für eine gleichberechtigte Zusammenführung zu sein.
Ich bin anders als die anderen
Eigenartig - wie das Wort eigenartig es fast als fremdartig hinstellt, eine eigen Art zu haben (Erich Fried)
Kinder, die zwischen den Kulturen aufwachsen, nehmen die Unterschiede im Aussehen oder im Verhalten wahr, lernen diese aber nicht als fremdartig, sondern als dazugehörig zu betrachten. Die fast fünfjährige Tochter vom Yasmine weiß, "dass ihr Papa Senegalese ist und anders aussieht als andere Papas im Kindergarten." Und eigentlich wachsen die Kinder nicht zwischen sondern viel mehr inmitten verschiedener Kulturen auf.
Das Anderssein, welches an Haut- und Haarfarbe, am Körperbau, an der Sprache oder der Augenform von der Umwelt festgemacht wird, weckt in Kindern das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Fragen nach dem Herkunftsland, nach der Aussprache und Richtigschreibung des Namens, oder Aussagen über die dunkle oder blasse, über das glatte oder grause Haar, rauben nicht nur die Nerven der Eltern wie der Kinder, sondern veranlassen das Kind dazu, das eigene Selbst als fremdartig zu erleben. "Kürzlich habe ich mich sehr geärgert, als mich jemand fragte, ob ich meine kleinen Kinder adoptiert hätte oder ob das meine eigenen seien", erzählt die vierfache Mutter. Auf der Suche nach dem eigenen Ich können viele Faktoren verwirrend wirken. Wo findet das braune Kind die angestrebte Gleichheit, wenn alle um es herum geradezu blass sind? Und dann kann es schon einmal vorkommen, dass Kinder ihrer Hautfarbe überdrüssig werden. "Unsere ältere Tochter sagte eine Zeit lang – als sie noch nicht lange in den Kindergarten ging, dass sie nicht braun sein, sondern lieber eine weiße Hautfarbe haben wollte", berichtet Yasmine.
Bikulturelle Partnerschaften mit Kind
Fragen zur Aufenthaltsgenehmigung, zur Arbeitserlaubnis und Krankenversicherung des nicht deutschen Partners beantwortet der Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.. Fragen zum glücklichen Zusammenleben oder zur Erziehung müssen die Partner wie in jeder Ehe oder Partnerschaft unter sich klären. In einer bikulturellen Partnerschaft treffen verschiedene Ansichten, Religionszugehörigkeiten und Erziehungsmethoden aufeinander. Manchmal zeigt sich das schon während der Suche nach einem Namen für das Kind. Daher ist es wichtig, dass sich binationale Paare im Voraus darüber einig sind, wie sie ihr gemeinsames Kind erziehen. Pro und Contra einer jeden Kultur könnten zum Vorteil des Kindes abgewogen und einbezogen werden.
Dabei spielt natürlich auch immer eine Rolle, in welchem Land die Familie lebt. Denn die Umwelt wirkt auf das Kind in Sprache, Verhalten und vielem mehr. Eine Voraussetzung für ein glückliches und gemeinsames Miteinander ist wohl, dass jeder in der Beziehung über die Kultur des anderen Bescheid weiß (was bedeutet Familie, wie sieht die Rollenverteilung aus, wer übt welche Autorität aus? u.a.). Auch sollte nicht außer Acht gelassen werden, wie viel von der nicht deutschen Kultur an das gemeinsame Kind herangetragen wird, oder ob man es zum Beispiel zweisprachig erziehen möchte und welche Feste man feiert, welche nicht.Die Liebe, das sehen wir bestätigt, macht nicht Halt vor der Nationalität. Doch was die Liebe vereint, kann schneller, als man es glauben möchte, an alltäglichen Erziehungsfragen scheitern. Denn wie anfangs bereits erwähnt, reagiert jedes Elternteil auf die Bedürfnisse seines Kindes, nach einem unbewussten Schema seiner kulturellen Geschichte.
Aus dem wirklichen Leben
"Ich bin Deutsche, aber mit marokkanischen Wurzeln. Ich bin Muslima ohne Kopftuch, feiere aber deutsche Weihnachten", sagt Yasmine, deren Eltern in ihrer Ehe die marokkanische und deutsche Kultur schon viele Jahre miteinander vereinen. Yasmine ist selber Mutter von vier Kindern. Die zwei großen Mädchen entstammen ihrer ersten Ehe mit einem deutschen, die zwei kleinen ihrer jetzigen Partnerschaft mit einem senegalesischen Mann.
Auf die Frage, was für sie und ihren jetzigen Partner bei der Namensgebung ihrer Kinder wichtig gewesen ist, antwortet sie: "Es war uns beiden wichtig, dass die Kinder Namen haben, die in beiden Ländern aussprechbar sind und hier in Deutschland (Lebensmittelpunkt) nicht irgendwie komisch klingen." Yasmine betont, dass sie sehr viel Wert darauf legt, dass ihre Kinder den Namen das Vaters tragen. "In Senegal wird die Familienzugehörigkeit oft durch den Namen eines Verwandten oder engen Freundes der Familie ausgedrückt."
Bisher sind die beiden in Erziehungsfragen noch nicht aneinander geraten. "Aber ich kann mir gut vorstellen", so Yasmine "dass das in Zukunft – wenn unsere Töchter erwachsen werden und Freunde haben und ausgehen wollen etc. – echte Probleme aufwerfen wird."Aus ihrer Erfahrung weiß sie zu berichten, welche Schwierigkeiten auftauchen können. Für sie war es undenkbar, einen Freund mit nach Hause zu bringen. Auch musste sie meist viel früher als ihre deutschen Freundinnen zu Hause sein. So gelang es Yasmine nie, ihre (Ehe)Männer zur vollen Zufriedenheit ihres Vaters auszuwählen. "Der erste war zwar weiß, aber ein Christ, der zweite war zwar Moslem aber schwarz."
Obwohl sie ihre Kinder nicht zweisprachig erziehen, liegt es ihr und ihrem Partner sehr am Herzen, ihren Kindern die senegalesische Kultur nahe zu bringen. "Denn sie sind ja zu einem großen Teil senegalischer Herkunft", so die Mutter. Zum Beispiel hören sie Musik oder schauen Filme, die ihnen die nicht-deutsche Kultur ein wenig vermitteln können. Aus finanziellen Gründen ist es der Familie unmöglich, nach Senegal zu fahren, um die Verwandten einmal kennen zu lernen. Bisher kennen die Kinder ihre dortigen Verwandten nur von Fotos oder durch das Telefon.
Yasmine hat bei der Wahl des Kindergartens auf nichts außergewöhnliches geachtet und das wird sie auch nicht in Hinsicht auf die Schule tun, die ihre Kinder einmal besuchen werden: "Da die Kinder voraussichtlich hier in Deutschland leben werden, möchte ich auch, dass sie als ganz normale deutsche Kinder aufwachsen und eben auch in eine ganz normale Schule gehen." Die vierfache Mutter ist der Ansicht, dass das Anderssein ihrer Kinder nicht ständig betont werden muss, denn genau das würde die Lebenssituation ihrer Kinder erst kompliziert machen.
Interkulturelle Erziehung im Kindergarten
Auch Erzieher und Erzieherinnen begegnen den Kindern und ihrem Verhalten nach den kulturellen Mustern, in denen sie selbst aufgewachsen sind. Doch um das Nebeneinander der Kulturen schon im Kindergarten zu einem Miteinander wandeln zu können, müssen die Erzieher/innen vor allem an sich selbst arbeiten. "Unser Hauptwerkzeug in unserem Beruf sind wir nun mal selbst", sagt der Erzieher und Sozialarbeiter Celal Aktas. "Eine Erzieherin, die ehrlich zu sich selbst ist, sich Vorurteile eingestehen und konstruktiv-kritisch mit den Eltern als Partner diskutieren kann", befindet sich seiner Ansicht nach auf gutem Weg.
Interkulturelle Erziehung – also Erziehung zwischen den Kulturen folgt als Konsequenz auf das Gebot der Chancengleichheit im Kindergarten. Denn hier kommt es darauf an, erzieherische Konzepte zu würdigen, "die sich sowohl mit dem Anliegen der einheimischen Kinder, als auch der der Zuwandererkinder befassen", so Aktas. "Wir wissen heute, dass der Kindergarten durch die aktive Zusammenarbeit mit den Elternhäusern durchaus in der Lage ist, harmonische, doppelsprachige und kulturelle Kinderpersönlichkeiten zu fördern."
Sprachausbildung im Kindergarten
Spätestens nach der Pisastudie hat auch der Letzte die Diskussionen um die Sprachförderung im Kindergarten gehört. Während einige Kinder immigrierter Familien in den Kindergarten gebracht werden, um dort besseres Deutsch zu lernen, bringen deutsche Eltern ihre Kinder wegen der sozialen Kontakte, wegen des Spielens und wegen der langsamen Abnabelung.
Kinder lernen in der Regel als erstes die Muttersprache, daher betrachten einige nicht deutschsprachige Eltern die Kindertagesstätte als Chance für ihr Kind Deutsch zu lernen. Doch ausschließlich für den deutschen Spracherwerb ist der Kindergarten nicht da, sagt Celal Aktas. Der Facharbeiter für Kindergärten meint, dass dafür an erster Stelle die Eltern zuständig sind: "Es sind ihre Kinder, für die ihnen niemand die Gesamtverantwortung übernehmen wird und auch nicht soll." Die Eltern müssen sich frühzeitig darum kümmern, dass für ihre Kinder Sprachanlässe und Situationen in Deutsch geschaffen werden, wie zum Beispiel Spielplatzaktivitäten und Nachbarschaftspflege. Kinder lernen aus der Beobachtung. Und wenn sie bemerken, dass ihre Eltern keine Kontakte zu deutschen Familien pflegen, werden sie nicht nachvollziehen können, aus welchen Gründen sie nun Deutsch lernen müssen."Dieses alles nimmt dem Kindergarten aber nicht die Verantwortung für die Sprachförderung, die er ja auch schon immer bei deutschen Kindern praktizieren musste", ergänzt Aktas. Für Kinder mit großen Mängeln in der deutschen Sprache sind zusätzliche Methoden notwendig. An Bedeutung gewinnt auch hierbei immer mehr die "Verzahnung mit dem Elternhaus".
Studien über Kinder bikultureller Familien
In dem Buch "Binational ist doch viel mehr als deutsch" hat die Herausgeberin Brigitte Wießmeier "Studien über Kinder aus bikulturellen Familien" veröffentlicht. Anhand der Interviews, die mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen binationaler Abstammung geführt wurden, fasst die Autorin Wiebke Rockhoff unter anderem folgende Ergebnisse zusammen:
- "1. Die Interviewten setzen sich mit den jeweiligen kulturellen Hintergründen ihrer Eltern intensiv auseinander, diese spielen eine wichtige Rolle in ihrer Selbstwahrnehmung.
- 2. Geben die Interviewpartner an, Deutsche zu sein, so werden ihre Aussagen oftmals nicht akzeptiert. Sie erfahren eine Art Fremdbestimmung ihrer Identität, indem ihre eigenen Angaben angezweifelt, Erklärungen zu ihrem kulturellen Hintergrund gefordert und ihnen vermittelt wird, sie können nicht deutsch sein.
- 3. Die Interviewpartner/innen fühlen sich durch ihren bikulturellen Hintergrund bereichert und mit besonderen kommunikativen Kompetenzen ausgestattet. Teilweise als belastend werden die Reaktionen des Umfeldes empfunden."
Der eigenen, der besonderen Art eines jeden Kindes oder Jugendlichen, darüber sind sich Erzieher und Psychologen einig, sollte man mit dem Respekt begegnen, mit dem man selbst begrüßt werden möchte. "Wir müssen bei der Förderung von gesunden Kinderpersönlichkeiten immer mehr lernen, die patriotischen Ecken zu verlassen und mutige Entscheidungen zu fällen. Die Erde ist für uns alle da", so Celal Aktas.