Kuckuckskinder

Schwanger! Aber nicht vom Partner

Nicht wissen, von welchem Mann das Kind ist, ist nicht nur für die werdende Mutter ein großes Dilemma. Auch die vermeintlichen Väter und die Kinder können sich früher oder später in einer verzweifelten Lage befinden. Maja Roedenbeck mit einem Plädoyer für die Flucht nach vorn.

Autor: Maja Roedenbeck

Kuckuckskinder: Jedes zehnte Kind im falschen "Nest"?

Zwei Babys sitzend

In der offiziellen Rechtssprechung heißt es "Kindesunterschiebung", wenn eine Frau den falschen Mann als Vater ihres Sohnes oder ihrer Tochter ausgibt. Doch der Begriff "Kuckuckskinder" ist in der Öffentlichkeit wesentlich bekannter. Von einem Tabuthema kann längst nicht mehr die Rede sein, nachdem jahrelang in allen Nachmittags-Talkshows vor laufender Kamera Vaterschaftstest-Ergebnisse verlesen wurden. Auch als Nischenthema kann die Kindesunterschiebung nicht gelten, wenn die Journalistin Simone Schmollack in ihrem Protokollband "Kuckuckskinder, Kuckuckseltern" eine erstaunlich hohe Dunkelziffer berechnet: "Schätzungen besagen, dass jedes fünfte bis zehnte Neugeborene ein Kuckuckskind ist, in Deutschland sind das etwa 25.000 bis 40.000 jedes Jahr. Eine 2005 in der Ärzte Zeitung veröffentlichte britische Studie hat eine Kuckuckskinder-Rate von 3,7 Prozent in Europa ausgemacht." Harald Euler, der an der Universität Kassel über die psychischen Folgen von Vaterschaftstests forscht, hält gegenüber dpa eine Rate von drei Prozent für realistischer. Andererseits sprechen Hildegard Haas und Claus Waldenmaier, beide Experten für genetische Diagnostik, in ihrem Buch "Der Kuckucksfaktor" wieder von 10 Prozent aller Schwangeren, die laut Erfahrungen von Gynäkologen nicht wissen, wer der Vater des Babys ist, und von "Millionen von Kuckuckskindern, die derzeit in Deutschland leben".

So verwundert es nicht, dass das Thema auch im urbia-Forum immer wieder diskutiert wird, zum Beispiel als die Userin "meingeheimnis" um Rat bat: "Ich bin verheiratet und hatte eine Affäre mit einem ebenfalls verheirateten Mann. Es ging immer nur um Sex, nie um Gefühle, wir waren uns einig, dass wir beide bei unseren Partnern bleiben wollen. Jetzt bin ich schwanger und ich weiß nicht von wem. Ich weiß auch nicht, wie ich damit umgehen soll. Am liebsten würde ich schweigen und nach der Geburt einen Test machen lassen, aber ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen beiden gegenüber. Vielleicht wäre es besser ehrlich zu sein, aber dann mache ich vielleicht vollkommen grundlos zwei Ehen kaputt. Was soll ich denn nur machen?"

Notlüge zum Wohl des Kindes?

Man braucht kein Moralapostel zu sein, um ganz spontan mit der Antwort zu kommen, die "echtjetzt" im urbia-Forum postet: "Wenn es nur um die Affäre ginge, hätte ich gesagt: Beende es und sag Deinem Mann nichts davon. Aber hier geht es um ein Kind, verdammt. Wenn Du es bekommst, dann spiel gefälligst mit offenen Karten! Du hast Scheiße gebaut und jetzt steh auch dazu!" Doch so einfach ist das für die Kuckucksmütter nicht. Sie verschweigen den echten Kindsvater ja nicht, um irgendjemanden zu ärgern, sondern, wie Expertin Simone Schmollack formuliert, "aus einem urmenschlichen Verlangen heraus: der Sehnsucht nach Harmonie. Sie werden getrieben von einem Instinkt, der dem Leben zugrunde liegt: Existenzsicherung. Sie wollen dem Kind ein Zuhause und Schutz geben." Auch wenn es für Außenstehende absurd klingt: Die Mütter haben bei all ihren Lügen nur das Wohl ihrer Kinder im Sinn – oder sie reden es sich zumindest überzeugend ein. Das Autorenpaar Haas und Waldenmaier lenkt den Blick zudem auf die Tatsache, dass Kuckuckskinder so wie auch Seitensprünge eine lange Tradition in der Menschheit (und auch im Tierreich) haben, die bis in die Psyche der Steinzeit zurückreicht: "Das Verhalten, das die Forscher [z.B. bei Vögeln] als ‚extra-pair mating’ bezeichnen, soll offenbar die genetische Stärke der jungen Küken verbessern. Auch bei Menschen gibt es diese ‚genetischen Programme’, die auch dazu führen, dass die meisten Seitensprünge bei Frauen dann passieren, wenn sie ihre fruchtbaren Tage haben."

Es ist also nicht damit getan, die Kindesunterschiebung als persönliche Charakterschwäche einzelner Frauen zu werten, denn sie findet innerhalb eines gesellschaftlichen, biologischen und psychologischen Rahmens statt. Doch auch wenn diese Erkenntnis die Kuckucksmütter etwas entlastet – sie legitimiert die Kindesunterschiebung nicht.

Unter dem Betrug leiden alle

Das vermeintlich "sichere Zuhause", das Mütter ihren Kuckuckskindern zunächst bieten können, wenn sie schweigen, bleibt eine Illusion – bis zu dem Tag, an dem das Geheimnis auffliegt. Und das wird mit großer Wahrscheinlichkeit passieren, wie die Fallbeispiele in Simone Schmollacks Protokollband deutlich machen. In der Geschichte des 52-jährigen Walter wurden im Dorf vierzehn Jahre lang Gerüchte verbreitet, bis seine Mutter davon Wind bekam und ihren Sohn damit konfrontierte. In der Geschichte des vermeintlich fünffachen Vaters Friedemann war es die Kindergärtnerin, die ihn darauf ansprach, dass sein Zweitjüngster sich im Charakter, aber auch in bestimmten Körpermerkmalen ganz grundsätzlich von seinen vier Brüdern unterschied. Kuckuckskinder berichten, sie hätten auch ohne konkreten Anlass gespürt, dass in ihrer Familie "irgendwas nicht stimmte", dass sie "irgendwie nicht dazugehörten", und die Lüge aus eigenem Antrieb entlarvt. Kuckucksmütter erzählen, sie hätten irgendwann einfach keine Kraft mehr gehabt und gebeichtet.

Das Chaos, das dann im Leben aller Beteiligten entsteht, ist wesentlich größer als das Chaos, das zu erwarten ist, wenn die Mutter schon in der Schwangerschaft mit offenen Karten spielt: Kinder müssen einsehen, dass sie um ihre Herkunft betrogen worden sind, und verlieren nicht selten ihre Väter, die sich vollkommen von ihnen abwenden. Scheinväter reagieren teils mit heftiger Wut, so wie Walter: "Der Betrug, dachte ich, ist schwer genug. Aber dass mich Sylvia auch noch zum Gespött der Leute machte, wog schwerer als jede ihrer Lügen. Das wird sie mir büßen, schwor ich." Haas und Waldenmaier ergänzen: "Bei den Vätern ist uns eine besondere Reaktion immer wieder aufgefallen: ein großer Schreck, wenn sie aufgrund des DNA-Tests nicht als der leibliche Vater in Frage kommen. Ihre erste Überlegung kommt dann prompt: Bin ich überhaupt zeugungsfähig?" Während für viele Scheinväter diese unmittelbar mit ihrer Männlichkeit zusammenhängende Frage mehr wiegt als der Verrat, gibt es auch Betroffene wie Friedemann, die auf emotionaler Ebene leiden: "Jutta und ich haben bisher eine gute Ehe geführt. Wir haben tolle Kinder, sind gesund und haben keine größeren Probleme. Warum tut sie mir so etwas an? Ich bin vollkommen durcheinander. Was soll nun aus uns werden?"

 

Die einzige Lösung: Die Flucht nach vorn

Das freiwillige oder unfreiwillige Geständnis nach Jahren des Lügens, so die Berliner Psychoanalytikerin Katrin Nickeleit in "Kuckuckskinder, Kuckuckseltern", sei mitunter sogar bedrohlich für die Beteiligten: "In dem Moment, in dem die Wahrheit offenkundig wird, ist nichts mehr, wie es war. Es gibt Menschen, die verkraften die Wahrheit mit all ihren Konsequenzen, und es gibt Menschen, die daran zerbrechen." Besonders gefährdet sind laut Nickeleit jene Kuckuckskinder, die die Schuld für die fragwürdige Entscheidung der Mutter bei sich selbst suchen. Und so bleibt einer Frau, die nicht weiß, von wem sie schwanger ist, wirklich nur eine Option: die Flucht nach vorn. Nur ein Problem, das auf dem Tisch ist, kann gelöst werden – sei es durch eine saubere Trennung vom Partner oder eine Versöhnung mit Chance auf einen Neuanfang. Betroffene, die glauben, das alles nicht alleine durchstehen zu können, finden in "Der Kuckucksfaktor" eine Liste mit Beratungsstellen, darunter pro familia, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärungund Terre des Femmes. Kuckuckskinder wenden sich demnach an das Deutsche Kinderhilfswerk oder den Deutschen Kinderschutzbund.

Vaterschaftstests nur bei seriösen Anbietern

Auch für Scheinväter gibt es – eher kleinere – Informationsangebote: So listet "Der Kuckucksfaktor" z.B. www.maennerfragen.de und www.pappa.com. Allerdings brauchen betroffene Männer oft nicht nur emotionale, sondern auch rechtliche Unterstützung. Sei es, um die für ein Kuckuckskind geleisteten Unterhaltszahlungen von seinem biologischen Vater zurückzufordern, oder um einen Vaterschaftstest zu erzwingen. Verschiedene Quellen berichten von 10 000 bis 15 000 Vaterschaftstests, die jährlich in Deutschland von Gerichten in Auftrag gegeben werden und von geschätzten 40 000 bis 50 000 privat in Auftrag gegebenen Vaterschaftstest. 20 bis 25 Prozent der durchgeführten Vaterschaftstests bestätigen demnach, dass es sich bei den per DNA-Analyse verglichenen Personen um Scheinvater und Kuckuckskind handelt. Nun gibt es unseriöse Anbieter, die mit Billigpreisen ködern, die ihre Tests im Ausland von unqualifiziertem Personal mit umstrittenen Methoden durchführen lassen, und auf deren Ergebnis deshalb nicht vertraut werden kann. Seriöse Anbieter haben ein eigenes Labor in Deutschland, das im Handelsregister eingetragen ist und wissenschaftlich geleitet wird. Sie verwenden ausschließlich die nach dem neusten Stand der Wissenschaft für geeignet befundenen Testsysteme. Die "Kooperationsgemeinschaft der freien Sachverständigen für Abstammungsgutachten in Deutschland" (VALID e.V.), vergibt ein Qualitätssiegel an Labore, die sich diesen und weiteren Standards verpflichten. Die Kommission zur Feststellung der Qualifikation von Abstammungsgutachtern (KFQA) garantiert hingegen mit einem eigenen Prüfzeichen, dass der Gutachter eine persönliche Kompetenz auf dem Fachgebiet nachgewiesen hat, die sogar über die gesetzlichen Anforderungen hinausgeht.

Welche Rechte haben Väter?

Und wie sieht die rechtliche Situation bezüglich eines Vaterschaftstests aus? Zahlreiche Männer, die vermuteten, ihnen sei ein Kuckuckskind untergeschoben worden, haben in den vergangenen Jahren heimlich Speichelproben vom Schnuller oder Kaugummi an Labore geschickt, um per DNA-Test Klarheit zu schaffen. Doch im April 2009 hat der Bundestag das "Gendiagnostikgesetz" verabschiedet, das in Teilen bereits gilt und vollständig ab Februar 2010 in Kraft treten wird. Es verbietet heimliche Vaterschaftstests, weil sie die Persönlichkeitsrechte des Kindes verletzen (und erlaubt ab Februar 2011 genetische Untersuchungen zur Klärung der Abstammung nur noch von zugelassenen Stellen). Wer trotzdem heimlich einen Vaterschaftstest durchführen lässt, begeht eine Ordnungswidrigkeit und muss bis zu 5000 Euro Bußgeld zahlen. Doch das heißt nicht, dass zweifelnde Väter nun keine Möglichkeit mehr haben, die Wahrheit herauszufinden, wenn sich die Mütter quer stellen. Denn das "Gesetz zur Klärung der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren" von 2008 verpflichtet alle Beteiligten (Vater, Mutter, Kind) dazu, in einen Vaterschaftstest einzuwilligen. Tut es eine Partei nicht, kann ein entsprechendes Urteil vom Familiengericht die Einwilligung ersetzen. Damit ist der DNA-Test legitim. Des Weiteren entschied der Bundesgerichtshof in Karlsruhe im April 2008, dass Väter, die Unterhalt für Kuckuckskinder gezahlt haben, das Geld von den mutmaßlich leiblichen Vätern einklagen können ("Scheinvaterregress"). Doch aufgemerkt: Es handelt sich hier um verschiedene Verfahren. Wenn der rechtliche Vater beim "Verfahren auf Klärung der Abstammung" herausfindet, dass er nicht der biologische Vater seines Kindes ist, aber dennoch rechtlicher Vater bleiben, für das Kind zahlen und es lieben möchte, verzichtet er auf das "Verfahren zur Anfechtung der Vaterschaft".

Spätestens diese komplizierten rechtlichen Konsequenzen sollten zeigen: Eine Kindesunterschiebung ist keine Notlüge. Sie ist eine sehr, sehr ernste Angelegenheit.

Sachbücher zum Thema Kuckuckskinder

  • "Kuckuckskinder, Kuckuckseltern: Mütter, Väter und Kinder brechen ihr Schweigen"
    von Simone Schmollack
    (9,90 Euro, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag)

    Kuckucks Kinder Eltern Schwarzkopf Verlag

    Simone Schmollack lässt nach wenigen einleitenden Worten über die Kuckuckskinderforschung drei Scheinväter, vier Mütter und drei Kuckuckstöchter erzählen, wie das Lebensgeheimnis in ihrer Familie ans Licht kam und welche unmittelbaren Konsequenzen sich daraus für die Familie ergaben. Den größten Raum nimmt in den Protokollen die chronologische Nacherzählung der Tage und Wochen rund um den Moment der Wahrheit ein, samt erstem Schock und spontanen Reaktionen. Von diesem Buch profitieren Scheinväter und Kuckuckskinder, die sich mit ihren Erfahrungen alleine fühlen – hier sehen sie, dass sie es nicht sind. Den Frauen, die eine Kindesunterschiebung erwägen, dürften die Protokolle auf abschreckende Art und Weise zeigen, dass dieser Weg nur ins Chaos führen kann. Ein Ratgeber für Männer, die an ihrer Vaterschaft zweifeln, für Frauen, die ihr Geheimnis offenbaren möchten, oder für Söhne und Töchter, die merken, dass mit ihren Eltern „irgendwas nicht stimmt“, ist „Kuckuckskinder, Kuckuckseltern“ nicht. Denn die Protokolle machen eher betroffen als dass sie einen nachahmenswerten Weg aus der verfahrenen Situation zeigen, und auch das psychologische Expertenstatement am Ende des Buches (dem noch ein Expertenstatement zu juristischen Aspekten der Kindesunterschiebung folgt) dient eher dem Verständnis für die Beweggründe der Betroffenen, als dass es konkrete Hilfe in Form von Tipps und Anregungen bieten würde.

  • "Der Kuckucksfaktor: Raffinierte Frauen? Verheimlichte Kinder? Zweifelnde Väter?"
    von Hildegard Haas und Claus Waldenmaier
    (39,80 Euro Gennethos Verlag)

    Kuckucksfaktor Gennethos Verlag

    Hier wird höchste Konzentration beim Lesen und ein tiefgehendes Interesse an den gesellschaftlichen, biologischen und psychologischen Hintergründen des Phänomens „Kuckuckskinder“ vorausgesetzt. Da die Herausgeber Experten für genetische Diagnostik sind, gehen sie (und ihre Co-Autoren) äußerst akribisch und in einem akademischen Ton an die Aufgabe heran, dem Laien die wissenschaftlichen Erkenntnisse rund um die Kindesunterschiebung verständlich zu machen. Dafür nimmt der Leser aber auch echten Wissensgewinn aus der Lektüre mit. So wird er z.B. darüber aufgeklärt, wie ein DNA-Vaterschaftstest im Detail funktioniert und welche moralischen Fragen er aufwirft, warum Menschen und Tiere von Natur aus fremdgehen und wie in anderen Kulturen mit Kuckuckskindern umgegangen wird. Am Ende ist klar: Es ist nicht damit getan, die Kindesunterschiebung als persönliche Charakterschwäche einzelner Frauen zu werten, denn sie findet innerhalb eines gesellschaftlichen, biologischen und psychologischen Rahmens statt. Fünf ausführliche Fallbeispiele werden im Mittelteil des Buches vorgestellt. Sie sind erfunden, basieren jedoch auf den langjährigen Erfahrungen der Autoren mit Betroffenen. „Der Kuckucksfaktor“ endet mit einem Kapitel über rechtliche Aspekte, getrennt für Deutschland, Österreich und die Schweiz betrachtet, einem zusammenfassenden Stichwortverzeichnis und einer Liste mit Anlaufstellen für Betroffene.