Typisch Mädchen - typisch Junge?
Immer häufiger werden in letzter Zeit wieder die angeblich angeborenen Unterschiede von Mädchen und Jungen diskutiert. Aber was ist wirklich dran am "Auto-Gen" von Jungs und am "Puppenwagen-Gen" von Mädchen?
Von Autos und Puppenwagen

Das erste Wort, das mein kleiner Sohn sprach, war „Mama“. Das zweite war „Auto“. Letzteres benutzt er seither ungefähr 1,3 Millionen mal so oft wie das erste. Mein Mann und ich sind unschuldig: Es gab keine Prägung unsererseits in diese Richtung. Sein Erstlingsspielzeug war von der großen Schwester geerbt und enthielt wenige Fahrzeuge. Inzwischen rollt eine bereifte Armada über unser Laminat, die ohrenbetäubend brummt und jault (und dazu einlädt, darauf auszurutschen). Fährt die Müllabfuhr draußen vor, klebt mein Sohn zuverlässig mit der Nase am Fenster. Und ob Mama, Papa oder ein Nachbar nach Hause kommen, erkennt er schon am Motorengeräusch des jeweiligen Wagens. Typisch Junge also? So einfach ist es nicht. Denn auch sein Puppenwagen sowie die Kinderküche werden von unserem Zweijährigen gern bespielt. Und vom Gemüt her ist er bisher so sanft, wie man es gern kleinen Mädchen zuschreibt. Gibt es wirklich charakteristische Verhaltensweisen für jedes Geschlecht? Und wenn ja, sind sie angeboren oder anerzogen? urbia zeigt, was bei den Kleinsten an den häufigsten Vorurteilen über „typisch Mädchen“ oder „typisch Junge“ dran ist.
Vorurteil oder Wahrheit?
Sieben gängige Meinungen: Vorurteil oder Wahrheit?
- Jungen sind aggressiver als Mädchen
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Der Eindruck vieler Eltern stimmt: Jungen sind nach der Beobachtung von Wissenschaftlern tatsächlich etwas aggressiver als Mädchen. Schon im dritten Lebensjahr beginnen Jungen, Dinge mit dem ganzen Körper zu stoßen und zu schieben und Spielzeuge zusammenkrachen zu lassen. Bereits vierjährige Jungen mögen Wettkämpfe und beschäftigen sich viel mit dem Thema Gewinnen oder Verlieren. Aber woher kommt das? „Man nimmt an, dass das Testosteron hier eine wichtige Rolle spielt, ein Hormon, das mit Kampfgeist in Verbindung gebracht wird“, so Susan Gilbert in ihrem Buch „Typisch Junge! Typisch Mädchen“. Und die Historikerin Susa Schindler ergänzt in ihrer Untersuchung: „Es gibt die Theorie, dass Hormone auch die Entwicklung des Gehirns steuern. So dass Jungen und Mädchen ein jeweils anderes ‚Gehirngeschlecht’ hätten, da sie im Mutterleib unterschiedlich hohen Mengen an weiblichen und männlichen Sexualhormonen ausgesetzt waren“. Ein wichtiger Grund ist aber auch, dass Eltern mit Jungen schon früh anders, nämlich rauer umgehen als mit Mädchen. Und dass in unserer Gesellschaft aggressives Verhalten bei Jungen eher als normal angesehen und mehr toleriert wird. Auch das Fernsehen führt vor, dass Konkurrenz typisch männlich ist: Dort werden vor allem männlich geprägte Wettkampf- Sportarten (Fußball) übertragen. „Es ist keine Frage, dass Jungen die zumeist männlichen Sporthelden nachahmen“, erklärt Gilbert. Auch in Zeichentrickfilmen für die Kleinsten werden männliche Figuren deutlich aggressiver dargestellt als weibliche. Etwas Erstaunliches fanden die Forscher ebenfalls heraus: Im Gegensatz zu Mädchenfreundschaften beeinflusst Konkurrenzverhalten Jungenfreundschaften nicht negativ – es gehört schon für kleine Jungs einfach dazu.
- Mädchen sind fürsorglicher
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Wenn Mädchen im Kindergartenalter ein kleines Baby sehen, machen sie oft entzückt “oh” und drücken den Wunsch aus, es zu halten und es zu füttern, während Jungen hier oft mit Gleichgültigkeit reagieren. Mädchen scheinen also mehr Interesse an Babies und am Imitieren von versorgenden Verhaltensweisen („Mutter-Vater-Kind“-Spiele) zu haben. Ursache könnten die weiblichen Geschlechtshormone sein, die bereits im Mutterleib wirksam wurden. Sie sollen die Fähigkeit zum Mitfühlen verstärken. Genaues wissen die Fachleute aber noch nicht. Auch Nachahmung spielt eine Rolle: Immer noch sehen sie, dass vor allem Mama (selbst wenn sie berufstätig ist) den Haushalt schmeißt und für die Versorgung der Kinder zuständig ist. Dies spiegelt sich in ihrem Spiel wider. Dennoch können auch Jungen sehr fürsorgliches Verhalten zeigen. Experten betonen, dass es der Gesellschaft gut täte, wenn Eltern ihren Söhnen oft Gelegenheit dazu geben würden (Trösten von kleinen Geschwistern, Pflege von Tieren) – denn hier hat Wut keinen Platz: „Fürsorglichkeit kann ein Gegenmittel gegen Gewalt sein“, betont die amerikanische Gender (= Geschlechter) -forscherin Carol Nagy Jacklin.
- Mädchen sind ängstlicher als Jungen
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Bei Kleinkindern haben Verhaltensforscher beobachtet, dass es tendenziell etwas mehr ängstliche Mädchen als Jungen gibt. Man vermutet hier eine erbliche Veranlagung, die etwas häufiger bei Mädchen vorkommt. Als viel wichtiger bewerten sie aber die Erziehung: Jerome Kagan von der amerikanischen Harvard University glaubt, dass Mädchen vor allem lernen Angst zu haben: Weil Eltern gegenüber Mädchen häufiger überfürsorglich und überbehütend sind und Töchter zu oft zur Vorsicht mahnen. Lassen Eltern sie dagegen ihre eigenen Erfahrungen machen, indem sie sie zum Beispiel nicht übermäßig trösten, wenn sie gefallen sind, werden solche Mädchen nach seiner Beobachtung deutlich weniger ängstlich.
- Mädchen sind netter und haben ein besseres Sozialverhalten
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Mädchen sind nach Ansicht der Genderforschung etwas kompromissbereiter, offener und rücksichtsvoller als Jungen. Sie sind aber nicht unbedingt „lieber“, sie zeigen ihre Wut vielmehr auf andere Weise als Jungs: nämlich eher mit Worten als körperlich, und oft eher „hinten herum“ (Lästereien) als direkt. Wissenschaftler führen dies zum einen auf unterschiedliche Arten von Freundschaften zurück: Kleine Mädchen spielen oft zu zweit oder in kleinen Gruppen, Jungen haben öfters einen größeren, aber lockereren Freundeskreis. Da Mädchenfreundschaften tiefer gehen, verlieren Mädchen mehr, wenn sie sich aggressiv verhalten, erläutert Susan Gilbert. Eine weitere Ursache ist aber, dass Eltern und Gesellschaft den Mädchen ein offen aggressives Verhalten eher übel nehmen, so dass Mädchen lernen müssen, andere Ausdrucksformen von Wut zu finden.
- Jungs bevorzugen Autos, Mädchen Puppen
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Die eingangs erwähnte (oder soll ich sagen beklagte) Vorliebe meines Sohnes für Fahrzeuge ist offenbar durchaus typisch: “Schon unsere kleinen Kinder suchen sich geschlechtsspezifisches Spielzeug aus. Und wenn Sie Zeichnungen von kleinen Jungen und Mädchen anschauen, sind die Bilder ganz unterschiedlich. Jungen zum Beispiel zeichnen gern Flugzeuge oder Darstellungen von Kämpfen“, erläutert der österreichische Verhaltensforscher Irenäus Eibel-Eibesfeldt in einem Interview. Wissenschaftler glauben, dass die Vorliebe für Fahrzeuge daher kommt, dass Jungen sich mehr für Bewegtes als für Unbewegtes interessieren und so ihr räumliches Vorstellungsvermögen trainieren. Auch der etwas „burschikosere“ Charakter von Jungen sei damit verbunden. Diese Vorliebe sei vermutlich durch den frühen Einfluss des männlichen Geschlechtshormons Testosteron auf das männliche Gehirn beeinflusst, so die amerikanische Wissenschaftlerin Sheri Berenbaum. Wieder einmal ist es jedoch schlicht auch Erziehungssache: Jungen „Mädchenspielzeug“ zu schenken und umgekehrt, gilt oft immer noch als unpassend. Dennoch gibt es Mädchen, die Autos viel mehr schätzen als Puppen, und viele Jungs sieht man heute glücklich und ganz selbstverständlich einen Puppenwagen vor sich her schieben.
- Mädchen sind in der Entwicklung eine Nasenlänge voraus
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Im feinmotorischen Bereich haben Mädchen im Kindergartenalter gegenüber Jungen tatsächlich einen Vorsprung von etwa sechs Monaten, so Susan Gilbert. Man vermutet auch hier hormonell bedingte Unterschiede im Aufbau des Gehirns von Mädchen und Jungen. Auch fangen Mädchen etwas früher an zu sprechen. Hierfür gibt es zwei Ursachen: Experimente zeigten, dass das Gehirn weiblicher Babys mehr sprachliche Informationen speichern kann als das von Jungen, und dass sie außerdem etwas länger konzentriert zuhören können. Dies animiert die Eltern im Gegenzug dazu, mit ihren Töchtern mehr und länger zu sprechen. Und das sorgt natürlich umgekehrt für eine raschere Sprachentwicklung der Mädchen. Hier gibt es also einen Ping-Pong-Effekt.
- Jungen können besser rechnen
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Forscher konnten zwischen Jungen und Mädchen keine Unterschiede in der Intelligenz feststellen. Allerdings gibt es offenbar unterschiedliche Stärken beider Geschlechter. Die amerikanischen Forscher Camilla Benbow und Julian C. Stanley fanden heraus, dass Jungen sich beim Umgang mit Zahlen leichter tun. Sowohl bei der Überlegenheit der Jungs im Rechnen als auch bei erwähnten der Mädchen im sprachlichen Bereich nehmen viele Wissenschaftler angeborene Unterschiede im Gehirn als Ursache an. Hier meldet die Biologin Dr. Sigrid Schmitz Bedenken an: „Die enorme Dynamik unserer Hirnplastizität (= Anpassungsfähigkeit), dieses ständige Wechselspiel zwischen biologischer Strukturbildung und Umwelteinflüssen, macht unseren entscheidenden Evolutionsvorteil aus. Lernen und Verhalten verursachen Veränderungen im Gehirn.“ Unterschiede im Gehirn von Mädchen und Jungen müssen also nicht angeboren sein, sondern können auch durch unterschiedliche Förderung in bestimmten Bereichen entstehen.
Einfluss der Biologie wird überschätzt
Immer noch zuviele Rollen-Klischees
Schmitz, Dozentin für Genderforschung an der Uni Freiburg, fragt denn auch provozierend: „Warum ist es so wichtig, Geschlechterunterschiede biologisch zu begründen? Warum werden diese Erklärungen von vielen Menschen so bereitwillig angenommen? Vielleicht, weil eine Aufhebung der Geschlechterunterschiede unsere gesellschaftliche Ordnung, die auf Geschlechterhierarchien fußt, in den Grundfesten erschüttern würde!“ Tatsächlich können Wissenschaftler bei allen Annahmen bisher keine echten Beweise für eine biologische Festlegung bestimmter Verhaltensweisen finden. Ein Mädchen kann vom anderen Mädchen also weitaus verschiedener sein, als von einem Jungen - und umgekehrt. Es gibt sanfte Jungen, und draufgängerische Mädchen. Schmitz warnt daher davor, den Einfluss der Biologie zu überschätzen. "Bei uns dominieren immer noch Geschlechterklischees", so die Expertin. "Kinder lernen ja nicht nur von ihren Eltern, sondern auch von ihren Freunden. Da spielt es auch eine ganz wichtige Rolle, ein bestimmtes Geschlechterverhalten anzunehmen, um einer bestimmten Gruppe anzugehören." Und die Medien tun ein Übriges: „Sie stellen geschlechtsspezifisches Verhalten zumeist kritiklos dar und wirken besonders in ihren Werbebotschaften massiv auf die Kinder ein“, wie auch Susa Schindler feststellt.
Fünf Alltags-Tipps für Eltern
Damit die allenfalls leicht ausgeprägten biologischen Unterschiede nicht durch unsere Erziehung einseitig verstärkt werden, geben Gender-Forscher Eltern folgende Tipps für den Alltag:
- Aggressionen und Angst mildern
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Aggressives Verhalten wird mehr durch elterliches Vorbild und durch die Medien beeinflusst als durch Geschlechtsunterschiede. Deshalb sollten Eltern körperliche Strafen, Drohungen und harsche Befehle gegenüber dem Nachwuchs vermeiden. Bei Konflikten zwischen Kindern können vor allem Jungen Alternativen zum Einsatz der Fäuste gezeigt werden. Keineswegs dürfen Eltern unterschwelligen Stolz zeigen, wenn ihr Sohn körperlich „Ellbogen“ beweist. Auch das Anschauen von Gewalt (Fernsehen, Computerspiele) sollte vermieden werden. Jungen brauchen mehr Möglichkeit, fürsorgliches Verhalten zu üben, weil dies die beste Vorbeugung gegen Gewalt ist. Und auch bei der Angst ist das elterliche Verhalten entscheidend: Bei Mädchen, aber auch bei unsicheren Jungs sollte man sich nicht überbehütend verhalten, weil dies Ängstlichkeit fördert. Auch feste Grenzen und Regeln helfen nach Ansicht der Forscher gegen Angst, denn sie geben Halt und Sicherheit.
- Schwächen ausgleichen
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Weil Jungen in der Feinmotorik und beim Sprechenlernen scheinbar etwas langsamer sind als Mädchen, können Eltern darauf achten, auch mit ihren Söhnen viel und konzentriert zu sprechen. Die Feinmotorik wird bei allem trainiert, wofür man seine Finger gebrauchen kann: Beim Auffädeln von dicken Perlen, beim Malen, beim Basteln von einfachen, selbstgemachten Spielzeugen. Eine Vorstellung für Zahlen kann man vor auch mit Mädchen ebenfalls schon früh trainieren, indem man im Alltag kleine Rechnereien einbaut („Wir müssen einkaufen gehen, wir haben nur noch zwei Äpfel, schau mal!“).
- Spielzeug-Vorlieben: Einseitigkeit vermeiden
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Man sollte Kindern natürlich nicht einseitig Spielzeug anbieten, das als typisch für das jeweilige Geschlecht gilt. Also Jungen nicht ungefragt Autos schenken und Mädchen Barbies. Man sollte aber umgekehrt diese Vorlieben zulassen, wenn sie denn da sind. Man braucht also Spielzeug, das als geschlechtstypisch gilt, deshalb nicht zu verbannen. Wenn ein Junge nur mit einem ferngesteuerten Kran, und ein Mädchen mit einer bestimmten Puppe oder Barbie glücklich wird, ist es absolut unbedenklich, wenn man diesen Wunsch erfüllt.
- Wenn Jungs „Mädchenkram“ benutzen – keine Angst vor Homosexualität!
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Und auch in einem weiteren wichtigen Punkt gibt es oft noch zu wenig Gelassenheit bei den Eltern: Die Forschung konnte längst zeigen, dass es keinerlei Bedeutung für die spätere sexuelle Ausrichtung hat, wenn Jungen eine Zeitlang „Mädchen-Kram“ ausprobieren mögen, wie Mädchenkleidung, Nagellack, Parfum oder Haarschmuck. Auch wenn man einen Jungen nicht unbedingt so in den Kindergarten schicken sollte (um Hänseleien zu vermeiden), darf man häusliche Experimente in dieser Richtung ganz entspannt sehen.
- Neue Vorbilder schaffen
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Auch wenn viele Eltern dies weit von sich weisen: Unterschwellige Ermunterungen zu bestimmtem Rollenverhalten sind immer noch Alltag. Studien zeigten: Die Erwartungen der Eltern lauten (unausgesprochen) auch heute oft: Mädchen ziehen sich hübsch an. Jungen weinen weniger. Mädchen helfen in der Küche. Mädchen sollen später (auch bei Berufstätigkeit) heiraten und Kinder kriegen, Jungen Geld verdienen und Karriere machen. Vor allem aber das Leben der Eltern selbst dient als Vorbild: Auch wenn die Frau berufstätig ist, arbeitet der Mann immer noch wenig im Haushalt mit. Kindern teilt sich aber früh mit, wenn es immer die Mutter ist, die den Tisch abräumt. Oder immer der Vater, der das Geld verwaltet und die wichtigsten Kaufentscheidungen trifft.
Da auch die Kiga-Gruppe ein Vorbild ist, ist es wichtig, dass Eltern beim Kind immer mal wieder Zweifel an der Gültigkeit von Gruppenerwartungen säen: Indem sie es ermutigen, einfach das zu spielen, was es am liebsten möchte, auch wenn das eigentlich „Jungen“- oder „Mädchenspiele“ sind. Und indem sie es unterstützen, wenn es sich geschlechtsuntypisch verhalten möchte, also vielleicht keine Lust hat, an Karneval die Prinzessin zu geben, sondern sich eher für das Harry Potter-Kostüm erwärmt. Auch die Betreuer der Kinder (Tagesmutter, Babysitter, Erzieherinnen) sind wichtig: Sie sollten Mädchen und Jungen nicht zu „geschlechtstypischen“ Spielen oder Verhaltensweisen anregen. Fällt Eltern dies auf, dürfen sie diese ruhig darauf hinweisen.
Zum Nachlesen
- „Geschlechterrollen: Welche biologischen Einflüsse beeinflussen unser Verhalten?“ von Susa Schindler, http://netzwerk.wisis.de/projekte/7.htm. (Übersicht über Studien und den Stand der Genderforschung.)
- Interview mit dem österreichischen Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Süddeutsche Zeitung online:
- „Zur Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in verschiedenen Kulturen" Studie des Bielefelder Soziologie-Professors Hans-Peter Blossfeld und seiner Bremer Kollegin Sonja Drobnic.
- „Wie im Fernsehen – Wie Kleinkinder emotionale Reaktionen von Erwachsenen im Fernsehen nachahmen", von Florian Rötzer.