urbia-Buchtipp

Jungs im Abseits

Eine wachsende Anzahl von Jungen scheint von einer Art Virus befallen zu sein, das träge, desinteressiert und unmotivert macht, so die Beobachtung des Kinderarztes und Psychologen, Dr. Leonard Sax. In seinem Buch liefert er Erklärungen.

Autor: Leonard Sax

Ein neues Virus, das träge und desinteressiert macht

Jungs im Abseits

Buchtipp
von
Petra Fleckenstein

„Keine Lust, mir doch egal, Schule ist doof.“ Alle Eltern kennen solche Äußerungen ihrer Kinder. Seit einiger Zeit jedoch häufen sich Stimmen, die besonders Jungs Entwicklungsprobleme und Schwierigkeiten mit unserem Bildungssystem attestieren. Auch der amerikanische Kinderarzt und Entwicklungspsychologe, Dr. Leonard Sax, machte während seiner langjährigen Praxis folgende Beobachtung: „Eine wachsende Zahl junger Männer (scheint) von einem seltsamen neuen Virus befallen zu sein, einem Virus, das sie träge und desinteressiert macht.“ Woher dieses Virus der Demotivation rührt und warum es Jungs stärker befällt als Mädchen – diesen Fragen geht Sax in seinem nun auf Deutsch erschienenen Band „Jungs im Abseits“ nach.

Allzu frühe Konzentration auf Schreib- und Lesekompetenz?

Im Laufe seiner zahlreichen Begegnungen mit Eltern, Besuche in Schulen und langjährigen Erfahrungen mit jungen Patienten hat der Kinderarzt fünf Faktoren als Ursache ausgemacht. Einer davon sind Schul- und Unterrichtsformen, die immer früher und ausschließlicher die Vermittlung abstrakten Wissens in den Mittelpunkt rücken. Dies beginnt bereits im Kindergarten, wo heute schon früh die Aufmerksamkeit auf dem Erwerb von Lese- und Schreibkompetenz liegt, während dieser Verschulung (vor allem in den USA, wo dieser Prozess bereits weiter fortgeschritten ist als in Deutschland) immer mehr sinnliche und Gemeinschaft fördernde Spiele (z.B. Kreisspiele) und Tätigkeiten (z.B. Malen mit Fingerfarben) zum Opfer fallen. Zum Problem wird die frühe Konzentration auf Lesekompetenz vor allem für Jungen, da zum Beispiel ihre Sprachentwicklung gegenüber der von Mädchen zeitlich verschoben verläuft. Die Gehirnregion, die für Sprachentwicklung zuständig sei, entspreche bei vielen fünfjährigen Jungen der eines dreieinhalbjährigen Mädchens, so Sax. Die Folge: Bereits im Kindergarten und bei der frühen Einschulung werden Jungen entmutigt, da von ihnen Fähigkeiten verlangt werden, die sie in diesem Alter noch nicht mitbringen können. Auch das immer seltener werdende Lernen durch Erfahrung (also Experimente und Ausflüge) und das Verbannen unmittelbaren Wettkampfs beispielsweise aus dem Sportunterricht trägt zum Motivationsverlust bei.

Jungs im Sog virtueller Welten

Selbstwirksamkeit erleben - fast nur noch am Computer

Einen weiteren Faktor sieht Sax im Sog der Videospiele, dem vor allem Jungs erliegen. Zwar hält er Computerspiele nicht per se für schlecht. Dennoch macht er mit vielen Eltern die Beobachtung, dass sich Jungs häufig für nichts in der Weise interessieren und begeistern können wie für die Welt der Video-Games. Denn dort erleben sie etwas, das ihnen in unserer Lebenswelt mehr und mehr versagt bleibt: Macht, Sieg, Selbstwirksamkeit. Dies allerdings mit einem unguten Nebeneffekt. Ihr scheinbares Können in den graphisch immer ausgefeilteren Videolandschaften entfremdet sie von der realen Welt und vermindert ihr Gespür für deren Anforderungen und die Fähigkeit, diese zu bewältigen. Mit dem Effekt, dass nichts in der realen Welt so motivierend erscheint wie die Siege in der virtuellen Welt.

Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten

Als dritten Faktor hat der Psychologe und Kinderarzt die medikamentöse Behandlung von ADHS ausgemacht, die allzu häufig da eingesetzt würde, wo Jungs durch Konzentrationsprobleme auffielen, die ihre Ursache aber nicht- wie oft angenommen - in einer hirnorganisch bedingten Erkrankung, sondern in der ihnen unangemessenen Lern- und Lebenswelt habe. Die Medikamente hätten zwar den Effekt, dass sich die „Patienten“ ruhiger verhielten und sich ihre schulischen Leistungen verbesserten. Allerdings, so Sax, bergen Stimulanzien die Gefahr, bereits nach einer kurzfristigen Einnahme die Persönlichkeit des Kindes zu verändern und es träge und antriebslos zu machen.

Weitere Ursachen für die Antriebsschwäche vieler Jungen und junger Männer sieht Sax im hohen Vorkommen bestimmter chemischer Stoffe in unserer Umwelt, die ähnlich wie weibliche Hormone auf den Körper wirken: Phtalate bzw. Bisphenol A. Während diese Substanzen, die zum Beispiel aus Plastikflaschen in unsere Umwelt übergehen, wie synthetischen Östrogene bewirken, dass Mädchen immer früher pubertierten, würden Jungs dadurch immer träger und antriebsschwächer.

Männliche Vorbilder zum Anfassen - verzweifelt gesucht

Und schließlich sei auch das Fehlen männlicher Vorbilder, die Abwesenheit der Väter in Familien und im Bildungswesen, der Mangel an positiven männlichen Leitfiguren, die Jungen bei der Hand nehmen und ihnen zeigen, wie man ein Mann wird, ein entscheidender Faktor, der dazu führt, dass Jungs immer antriebsloser werden.

Damit den Lesern seiner aufrüttelnden Analyse der Mut nicht sinkt, hat der Autor jedoch auch nicht vergessen, Wege aus dem Dilemma aufzuzeigen: Die Kinder in Kindergärten (besonders sinnvoll: Waldkindergärten) und Schulen anmelden, die dem Lernen durch Erforschen und Erfahren, sowie dem natürlichen Bewegungsdrang genügend Raum geben. Es mit einer reinen Jungenschule versuchen. Videospielzeit klar begrenzen und stets „realen“ Tätigkeiten den Vorzug geben: Sport, Aktivitäten mit Freunden, Gärtnern, Werkeln, an technischen Geräten herumbasteln. Statt voreilig zu Medikamenten zu greifen, nach anderen Gründen für die Konzentrationsstörung von Kindern forschen und andere Möglichkeiten der Behandlung ausschöpfen. Jungen mit männlichen Vorbildern in Kontakt bringen.

Einige dieser Vorschläge sind für Eltern keineswegs leicht umzusetzen. Doch ein großes Verdienst des Buches liegt dennoch darin, durch seine fundierten Erklärungsansätze zum Phänomen demotivierter Jungen Müttern und Vätern konkrete Ansatzpunkte zum Gegensteuern zu liefern.

Jungs im Abseits, mit einem Vorwort von Wolfgang Bergmann, ist erschienen im Kösel Verlag und kostet 17,95 EUR.