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Wie verlässlich sind offizielle Impfempfehlungen?

Impfen: Eltern zwischen Für und Wider

Impfbefürworter warnen vor Schäden durch Krankheiten, Impfgegner vor Impfschäden. Gegenseitig werfen Eltern sich Verantwortungslosigkeit oder Kindesverletzung vor. Doch Impfen ist ein zu ernstes Thema für unangemessene Panikmache. Und es ist zu komplex für reines Schwarz-Weiß-Denken.

Autor: Kathrin Wittwer

Warum fangen Eltern an zu zweifeln?

Impfen junge
Foto: © panthermedia/ luiscarceller

Die Ausgangssituation ist eigentlich klar: Es gibt schlimme, potentiell tödliche Krankheiten, vor denen man sich durch Impfungen schützen kann. Wenn alle mitmachen, lässt sich die Gefahr sogar ausrotten. Wie können da überhaupt Zweifel aufkommen, ob Impfungen sinnvoll sind – oder gar gefährlich?

„Einer der Hauptfeinde des Impfens ist sein eigener Erfolg. Gefährliche Krankheiten werden sehr selten und nicht mehr als schlimm wahrgenommen, die Angst vor ihnen sinkt“, erklärt sich Dr. Jan Leidel die Skepsis. Der Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, seit 20 Jahren Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO), ist seit 2011 ihr Vorsitzender. „Im Gegenzug steigt die Angst vor Nebenwirkungen ins Unermessliche.“

Der Münchner Kinderarzt Dr. Martin Hirte, Autor des Buches „Impfen Pro & Contra“ und Gründungsmitglied des Vereins "Ärzte für die individuelle Impfentscheidung", hat eher den Eindruck, die Kritik habe sich an der Übermacht entzündet, mit der Impfungen beworben werden – und an den Quellen der Informationen: „Bei vielen blinken die Alarmlämpchen, wenn sie zum Beispiel sehen, dass viele Flyer in Wartezimmern von Impfstoffherstellern stammen. Da fängt man an, sich zu informieren und Fragen zu stellen.“

Fokus ist das eigene Kind

Denn Eltern wollen darauf vertrauen, dass sie ihrem Kind mit einer Impfung etwas Gutes tun. Auch wenn das große Ziel des Impfprogramms der Herdenschutz ist – Eltern impfen nicht primär für die Masse, weiß Dr. Leidel: „Eltern richten ihren Fokus auf das eigene Kind, für dieses wollen sie das Beste. Wenn da jemand mehr Angst vor der Impfung als vor der Krankheit hat, verstehe ich das, auch wenn ich es nicht für richtig halte.“ Angriffe oder gar eine Impfpflicht wären aber kontraproduktiv, ist der STIKO-Vorsitzende überzeugt: „Mit Zwängen treibe ich Schwankende nur weg vom Impfen. Ich muss auf  Besorgnisse eingehen, mit überzeugenden Argumenten in einer vernünftigen, wertschätzenden Kommunikation.“

Wie objektiv sind die offiziellen Impfempfehlungen?

Eine fundamentale Vertrauensfrage betrifft dabei die STIKO selbst. Die ehrenamtlich arbeitende Kommission aus vom Bundesgesundheitsministerium berufenen, ausgewiesenen Experten soll aus allen zugelassenen Impfstoffen diejenigen herausfiltern, an denen – neben dem Schutz des Einzelnen – ein öffentliches Interesse (die Vermeidung von Epidemien) besteht. Weil STIKO-Empfehlungen als Impfstandard gelten (und damit für den Produkthersteller nahezu eine Verkaufsgarantie sind), wird immer wieder hinterfragt, ob man auf völlig unbeeinflusste Entscheidungen der STIKO vertrauen kann.

Leider nicht, meint unter anderem Dr. Klaus Hartmann. Der Wiesbadener Arzt und Gutachter für Impfschäden hat lange Jahre im Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gearbeitet, der deutschen Zulassungsbehörde für Arzneimittel, und kritisiert: „In der STIKO sitzen viele Menschen mit Interessenskonflikten, zum Beispiel weil sie Studien für Impfstoffhersteller gemacht haben.“

Wie unabhängig ist die STIKO?

Tatsächlich finden sich in etlichen Selbstauskünften der Mitglieder (grundsätzliche Impfskeptiker sind nicht darunter) Berührungspunkte zur Industrie. „Das ist für Eltern schwer einzuschätzen“, gibt Dr. Leidel – selbst konfliktfrei – zu. Trotzdem verdient die Kommission seiner Ansicht nach Vertrauen: „Die STIKO bemüht sich sehr, transparenter zu werden, veröffentlicht Sitzungsprotokolle und hat sich ein aufwändiges Verfahren auferlegt, um Entscheidungen sehr sorgfältig auf Basis bester wissenschaftlicher Evidenz zu treffen. Jedes Mitglied wird sowohl vor der Berufung wie auch alle zwei Jahre umfassend selbst auf minimale Konflikte geprüft. Wer nur im Entferntesten mit einer Impfung oder dem Hersteller zu tun hatte, wird von Abstimmungen darüber für zehn Jahre ausgeschlossen.“

„Gehört wird er vorher trotzdem“, bleibt Dr. Martin Hirte skeptisch. Wie Dr. Hartmann ist er der Meinung, dass eine STIKO, um rundum glaubwürdig zu sein, komplett unabhängig besetzt sein müsste. Dafür sollte auch transparent sein, warum welche Person berufen wurde. Bisher gibt das Bundesgesundheitsministerium darüber keine Auskunft.

Sind alle Impfungen sinnvoll und notwendig?

Aus Zweifeln an der Unabhängigkeit der STIKO erwachsen auch Zweifel daran, ob wirklich alle der empfohlenen Impfungen notwendig sind. Der Rotaviren-Schutz ist so ein Diskussionspunkt: Aufgenommen in den Impfplan wurde er 2013 „aufgrund neuer Zahlen, die zeigten, dass es doch mehr Fälle und schwerere Verläufe gibt als bis dahin bekannt“, verteidigt Dr. Leidel diese Entscheidung. Dr. Martin Hirte hält die generelle Empfehlung hingegen für unnötig und damit auch zu teuer fürs Gesundheitswesen: „Hier müsste man differenzieren. Gestillte Kinder brauchen das nicht, die erkranken kaum daran“, meint er.

Auch dass, wie Dr. Leidel anführt, ohne schwere Epidemien das Gefühl der Bedrohung nicht akut ist, spielt eine Rolle für Eltern, die ihre Kinder nicht vorbehaltlos nach dem STIKO-Plan immunisieren lassen. Stattdessen werden andere Aspekte höher gewichtet, wie mögliche positive Folgen einer Krankheit: „Es gibt unter anderem starken Anhalt dafür, dass das Durchmachen von Windpocken vor bestimmten Hirntumoren schützt, Mumps vor Eierstockkrebs und Masern vor gewissen chronischen Nierenerkrankungen“, erklärt Dr. Hirte. Ganz allgemein sind viele Eltern davon überzeugt, dass ihr Kind durch eine natürliche Stärkung des Immunsystems und der Persönlichkeit von der einen oder anderen Infektion profitieren würde. „Es kann gut sein, dass ein Kind nach einer fieberhaften Erkrankung einen solchen Schub macht“, sagt Dr. Leidel. „Aber im Vergleich mit einem ähnlichen Kind, das die Krankheit nicht durchgemacht hat, hat sich der Unterschied nach vielleicht fünf Monaten schon wieder ausgeglichen.“ Dafür würde der Mediziner nicht die Risiken in Kauf nehmen: „Viele vergessen, dass Kinderkrankheiten trotz ihres Namens nicht harmlos sind, es bleiben auch Kinder auf der Strecke“, warnt er.

Tipps vom Kinderarzt: Sinnvolle Impfungen

Wie berechtigt ist die Angst vor Impfschäden?

Das wohl größte Dilemma unsicherer Eltern ist, dass auch Impfungen selbst mit Komplikationen in Verbindung gebracht werden:  Allergien, Diabetes, Hirnschäden, selbst Todesfällen. Hauptsächlich stehen Konservierungsstoffe und Wirkverstärker der Impfstoffe als Verursacher im Verdacht, allen voran das Metall Aluminium und die (für Kinder nicht mehr verwendete) Quecksilberverbindung Thiomersal. 

Offiziell bestätigt und anerkannt ist jedoch längst nicht alles. „Es ist außerordentlich schwierig festzustellen, ob etwas durch eine Impfung verursacht wurde oder ob es ein zufälliges Zusammentreffen war“, erklärt Dr. Leidel. Er ist aber überzeugt, dass die Risiken unerwünschter Reaktionen auf eine Impfung um „viele Zehnerpotenzen“ niedriger sind als die nach einer Erkrankung. „Als STIKO verlassen wir uns da zunächst auf die Einschätzungen der Zulassungsbehörden, also des PEI und der Europäischen Arzneimittelagentur, nehmen aber auch die wissenschaftliche Literatur sorgfältig zur Kenntnis.“

„Für die Zulassungsbehörden zählt aber in erster Linie, dass der Hersteller die Wirksamkeit des Stoffes nachweist. Über die Sicherheit sind diese Studien oft überhaupt nicht aussagekräftig“, weiß Dr. Klaus Hartmann aus seiner früheren Tätigkeit im PEI. „Vieles zeigt sich erst nach Jahren der Anwendung in der breiten Masse, wenn man plötzlich sieht, dass diese oder jene gravierende Nebenwirkung dazugehört. Das müsste man in die Fachinfo aufnehmen. Stattdessen wird aber lange gestritten, ob das tatsächlich die Impfung war.“ Geschätzt werden in der Praxis ohnehin nur fünf bis zehn Prozent aller Symptome gemeldet. Die Datenlage über Impffolgen gilt daher als sehr dünn und wenig aussagefähig.

„Für mich sind die Risiken der Pferdefuß des Impfprogramms, weil letztlich weder der Arzt noch der Patient absehen können, welche sie eingehen“, bilanziert Dr. Hirte. „Ich meine nicht Nebenwirkungen wie Rötungen oder Fieber, die muss man zur Vermeidung von Seuchen in Kauf nehmen, denke ich. Aber es fehlt an verlässlichen Daten über Langzeitwirkungen, etwa von toxischen Stoffen wie Aluminium auf Immun- und Nervensystem, noch dazu, wenn sie Kindern schon in einem so frühen Alter und unreifen Zustand verabreicht werden. Könnte man sicher sein, dass Impfungen nur Positives bewirken und nicht schaden, spräche gar nichts gegen das Impfen.“

Persönliche Ängste sind immer Teil der Impfentscheidung…

Eine grundsätzliche Verteufelung von Immunisierungen ließe außer Acht, dass diese den Einzelnen ebenso wie das Kollektiv vor gefährlichen Erkrankungen schützen und damit schon unzählige Leben gerettet haben. Andererseits lässt die heutige Impfpraxis aber eben auch Spielraum für Skepsis. Etliche Fragen sind nicht final geklärt, und auf beiden Seiten werden seriöse, hörens- und bedenkenswerte Fakten von regelrechter Propaganda und unangemessener Panikmache überschattet. „Für Eltern ist es da schlicht nicht leistbar, einen rein objektiven, auf nackten Fakten basierenden Entschluss für das eigene Kind zu fassen“, schlussfolgert Dr. Hartmann. „Selbst nach wochenlanger Recherche weiß man nicht, was ist richtig und was nur eine ausgedachte Geschichte.“

Und: Letztlich kann niemand absolut sicher vorhersagen, ob (s)ein Kind eine Impfung problemlos verträgt oder ob es die Krankheit ohne Folgen überstehen würde – zahlreiche Faktoren wie das Alter, der allgemeine Gesundheitszustand, Vorerkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten haben darauf Einfluss. So ist es praktisch unvermeidbar, dass im Abwägen der Argumente bei Eltern auch das Bauchgefühl ein Stimmrecht bekommt – und damit auch die rein subjektive Antwort auf die Frage, vor welchen Problemen man selbst die größten Ängste hat.

… aber man sollte versuchen, sie nicht unnötig hochzuschaukeln

„Angst spielt beim Impfen eine Rolle, das ist nicht auszulöschen“, macht sich auch Dr. Hirte keine Illusionen. Er rät aber sehr dazu, das Impfen trotzdem nicht überzubewerten: „Am Ende sind die Wahrscheinlichkeiten von Risiken auf beiden Seiten doch sehr gering, noch dazu, wenn man sie in Relation zu anderen Risiken wie etwa Verkehrsunfällen sieht. Und für die Gesunderhaltung spielen viele Faktoren eine Rolle. Impfen ist nur ein Teil davon.“

Service: Buchtipps und Links

Im Netz

Literatur

  • Carl-Friedrich Theill / Stiftung Wartentest: Impfen. Die richtige Strategie. Stiftung Warentest. 2013. ISBN-13: 978-3868511369. 18,90 Euro.

Pro

  • Prof. Dr. Ulrich Heininger: Handbuch Kinderimpfung. Die kompetente Entscheidungshilfe für Eltern. Irisiana. 2009. ISBN-13: 978-3424150025. (derzeit nur gebraucht)
  • Friedrich Hofmann: Impfen. Wissen, was stimmt. Herder. 2011. ISBN-13: 978-3451063091. 8,95 Euro.

Kritisch

  • Dr. Klaus Hartmann: Impfen, bis der Arzt kommt. Wenn Pharmakonzernen Profit über Gesundheit geht. Herbig. 2012. ISBN-13: 978-3776626940. 19,99 Euro.
  • Dr. Martin Hirte: Impfen Pro & Contra. Das Handbuch für die individuelle Impfentscheidung. Knaur. 17. Auflage 2012. ISBN-13: 978-3426876190. 12,99 Euro.

Contra

  • Andreas Bachmair: Risiko und Nebenwirkung Impfschaden. Was Ihnen Ihr Arzt oder Apotheker nicht erzählt. (eine Sammlung von Erfahrungsberichten) Selbstverlag. 2012. ISBN-13: 978-3033037533. 17,99 Euro.
  • Friedrich P. Graf: Die Impfentscheidung. Ansichten, Überlegungen, Informationen – vor jeglicher Ausführung. Spangsrade. 2010. ISBN-13: 978-3934048034. 15,99 Euro.

Eine Übersicht über die wichtigsten Gremien rund ums Impfen

Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), London

ist in der EU für die Beurteilung und Überwachung von Arzneimitteln zuständig. Ihre Stimme ist ausschlaggebend für die Zulassung neuer Arzneimittel durch die Europäische Kommission.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Langen (Hessen)

ist für die Zulassung von Arzneimitteln und Impfstoffen in Deutschland verantwortlich. Es fungiert auch als Experte zur Bewertung von Impfstoffen auf europäischer Ebene für die EMA.

Das Robert-Koch-Institut (RKI), Berlin

ist als Einrichtung der Bundesregierung dafür verantwortlich, Krankheiten zu erkennen, zu verhüten und zu bekämpfen (v.a. Infektionskrankheiten). Am RKI angesiedelt ist:

Die Ständige Impfkommission (STIKO)

Gegründet 1972, ist ihre Aufgabe, aus den bei uns zugelassenen Impfungen diejenigen auszuwählen, denen sich jeder Deutsche (z.B. Diphterie, Polio, Masern) bzw. bestimmte Bevölkerungsgruppen (z.B. HPV-Schutz für junge Mädchen, Grippeschutz für ältere Menschen) unterziehen sollte, weil ein öffentliches Interesse an diesen Immunisierungen besteht (z.B. Seuchenschutz, Kostenvermeidung). Was die STIKO empfiehlt, gilt als medizinischer Standard – und das hat weitreichende Konsequenzen:

  • Die empfohlenen Impfungen müssen von den Krankenkassen bezahlt werden.
  • Entsteht durch eine solche Impfung ein gesundheitlicher Schaden, haftet der Staat.
  • Ärzte, die diese Impfungen nicht durchführen, stehen im Krankheitsfall allein in der Verantwortung.

STIKO-Mitglieder werden alle drei Jahre vom Bundesgesundheitsministerium (in Absprache mit Ländergremien) neu berufen, ohne dass die Personalien öffentlich begründet werden. In Frage kommen Mediziner mit ausgewiesenen Kompetenzen und Erfahrungen rund ums Impfen. Grundsätzliche Impfgegner sind derzeit nicht dabei. Die Arbeit in der STIKO ist ehrenamtlich.