Zu groß, zu klein? Wie Kinder wachsen
Wenn der Nachwuchs seine Altersgenossen deutlich überragt oder immer der Kleinste der Gruppe ist, bereitet das vielen Eltern Sorgen. Doch ab wann ist die Besorgnis über das kindliche Wachstum wirklich berechtigt?
Ein Kind außerhalb des Normbereichs

Den eigenen Nachwuchs ständig mit Gleichaltrigen zu vergleichen ist leider etwas, dem sich die meisten Eltern kaum entziehen können. Das beginnt schon im Mutterleib und verläuft dann wie ein roter Faden durch die gesamte Kindheit. Diese Vergleiche beschränken sich aber längst nicht nur auf die kindlichen Fähigkeiten wie Laufen, Sprechen oder Malen. Auch die Körpergröße der Kinder ist unter Eltern immer wieder Thema. Kein Wunder – kaum auf der Welt, wird der Nachwuchs vermessen, gewogen und das Ergebnis anhand von Perzentilen im gelben U-Heft festgehalten. So sieht man auf den ersten Blick, wie es um Größe und Gewicht im Vergleich zum Durchschnitt bestellt ist. Natürlich macht diese „Überwachung“ durch den Kinderarzt Sinn, denn dadurch sollen Entwicklungsauffälligkeiten möglichst frühzeitig erkannt und gegebenenfalls behandelt werden. Doch manchmal geben die Kreuzchen in den Diagrammen den Eltern auch Anlass zur Sorge, gerade wenn die Linien im Verlauf einen Knick machen oder die Ergebnisse außerhalb des Normbereiches liegen. Was dann?
Der erste Ansprechpartner ist der Kinderarzt
In der Regel fallen Abweichungen im Wachstum bereits im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt auf. Dieser ist auch der erste Ansprechpartner, wenn sich Eltern wegen der Körpergröße ihres Kindes sorgen. Das gleiche gilt für Unsicherheiten in Bezug auf das kindliche Gewicht. Verläuft die Wachstumsentwicklung tatsächlich auffällig, folgt oft eine Überweisung zum Endokrinologen (Facharzt für Hormon- und Stoffwechselstörungen). In den allermeisten Fällen können aber krankhafte Ursachen für den Klein- bzw. Großwuchs ausgeschlossen werden. Vielmehr spielen die Gene dabei die entscheidende Rolle. Wenn Vater und Mutter beide relativ klein sind, wird auch der Nachwuchs später sicherlich kein „Riese“. Doch auch Kinder größerer Eltern müssen nicht zwangsläufig von Anfang an groß sein. So gibt es Zeiten, in denen die Größenentwicklung stagniert, beispielsweise nach einer akuten Krankheit. Dies kann der Körper aber in den nachfolgenden Wochen wieder aufholen. Bei vielen Kindern setzt ein Wachstumsschub mal etwas verspätet ein, doch auch das hat auf die endgültige Körpergröße im Erwachsenenalter keinen Einfluss mehr. Ernste Erkrankungen, die theoretisch hinter einer Wachstumsstörung stecken können, sind zum Glück sehr selten.
Was bedeuten die Perzentilen?
Den Perzentilen liegen statistische Messwerte von Kindern zugrunde. Daraus wird eine prozentuale Normverteilung für Größe, Gewicht, Kopfumfang und BMI (Body-Mass-Index) erhoben. Die Diagramme mit den Perzentil-Kurven finden sich ganz hinten im gelben U-Heft, der Kinderarzt trägt hier bei jeder Vorsorgeuntersuchung die aktuellen Messergebnisse ein. Daraus kann man dann ablesen, wie viel Prozent „aller“ Kinder im jeweiligen Alter die gleiche Größe aufweisen. Liegt das Kreuzchen eines fünfjährigen Jungen beispielsweise auf der 25. Körpergrößen-Perzentile, bedeutet dies, dass 25 Prozent aller gleichaltrigen Buben in Deutschland kleiner sind. Ein Wert allein ist aber nicht besonders aussagekräftig, vielmehr erlaubt die regelmäßige Eintragung, den Wachstumsverlauf des Nachwuchses zu beurteilen. Liegt die Körperhöhe des Kindes dabei unter der 3. bzw. oberhalb der 97. Perzentile oder zeigt sich im Verlauf ein deutlicher Knick, sollte dies durch einen Kinderarzt abgeklärt werden.
Ab wann ist das Wachstum auffällig?
Kinderärztin Alexandra Keller ist Fachärztin für Kinderendokrinologie und –diabetologie und bedient am Leipziger Kinderzentrum am Johannisplatz eine große Sprechstunde. Sie erklärt, dass man von einer Wachstumsstörung spricht, wenn das Wachstum eines Kindes von dem für das jeweilige Alter und für die familiäre Norm typischen Wachstumsmuster abweicht: „Entweder liegt das Kind außerhalb der Perzentilen oder es kommt zu einer Reduktion der Dynamik.“ Die Ursachen für solche Abweichungen sind vielfältig, oft sind einfach verspätete Entwicklungsschübe Schuld. „Selten stecken angeborene genetische Störungen dahinter, also Chromosomenanomalien wie das Down-Syndrom oder das Ullrich-Turner-Syndrom.“, erklärt Dr. Alexandra Keller. „Auch eine Fehlversorgung im Mutterleib kann ursächlich sein, durch eine Plazentainsuffizienz oder Alkohol- bzw. Nikotinmissbrauch.“
Die häufigste Ursache eines Kleinwuchses ist der familiäre Kleinwuchs und die konstitutionelle Entwicklungsverzögerung. „Dies sind als normal einzustufende Varianten. Darüber hinaus führen hormonelle Störungen zu einer Änderung der Wachstumsdynamik, wie ein Mangel (Kleinwuchs) oder Überschuss (Hochwuchs) an Wachstumshormonen oder eine Schilddrüsenunterfunktion. Weitere mögliche Gründe können organische Erkrankungen sein, wie zum Beispiel Zöliakie, ein Herzfehler oder Nierenkrankheiten. Außerdem gibt es die Variante des psychosozialen Kleinwuchses, wo das Kind durch eine Konfliktsituation sein Wachstum einstellt.“
Wie wird untersucht?
Der Facharzt bewertet nicht einzig die Kurven im U-Heft, im Vordergrund steht auch die Familienanamnese. Außerdem betrachtet er die Körperproportionen des Kindes und berechnet die Wachstumsgeschwindigkeit, also wie viele Zentimeter ist der Nachwuchs in einem Jahr gewachsen. Je nach vermutetem Befund stehen dann zur genaueren Diagnostik verschiedene Untersuchungsmethoden zur Verfügung. Eine ist zum Beispiel die Bestimmung des Knochenalters. Hierfür wird die linke Hand des Kindes geröntgt, anhand der Wachstumsfugen kann der Arzt so das biologische Alter ablesen. Liegt dieses hinter bzw. vor dem tatsächlichen Alter, kann das der Grund für eine abweichende Körpergröße sein. Werden hormonelle Störungen vermutet, kommen Bluttests zum Einsatz.
Behandlung – ja oder nein?
Ob die Wachstumsstörung behandelt wird, hängt von der Gesamtsymptomatik ab, also wie stark ist die Abweichung von der alterstypischen Norm und welche Ursache wurde gefunden. Dr. Alexandra Keller zählt einige Behandlungsmöglichkeiten, abhängig von der zugrundeliegenden Krankheit, auf: „Bei einer Zöliakie muss die Ernährung umgestellt werden, bei einer Herzerkrankung muss die kardiologische Intervention geplant werden. Bei einem hormonell bedingten Kleinwuchs ist bei gegebener Indikation eine Therapie mit Wachstumshormonen möglich.“ Ob eine Therapie zum Einsatz kommt, muss individuell abgewogen werden. Die Behandlungsart sowie mögliche Nebenwirkungen wird vorab mit der Familie ausführlich besprochen, auch wie sich diese im Einzelfall auf die kindliche Entwicklung auswirken sollen. Wenn klinisch nichts gefunden wird, ist eine viertel- oder halbjährliche Beobachtung ratsam.
Wie groß wird mein Kind?
Eine beliebte Spielerei von Eltern ist die Berechnung der kindlichen Größe im Erwachsenenalter. Dafür gibt es verschiedene Formeln, zum Beispiel: Die Größe des Vaters + die Größe der Mutter (in cm) geteilt durch zwei. Von diesem Ergebnis werden bei Mädchen 6,5 cm subtrahiert bzw. bei Jungen addiert. Einen groben Anhaltspunkt können diese Formeln schon geben, aber die Kinderendokrinologin Alexandra Keller erklärt auch: „Natürlich ist es so, wenn beide Elternteile weit in ihren Endgrößen differieren, dass die Kinder sich dann mehr in die eine oder eben in die andere Richtung entwickeln.“ Mit dem urbia-Wachstumsrechner kannst du die zukünftigen Körpergröße deines Kindes ganz leicht berechnen: entweder ausgehend von der Körpergröße beider Elternteile oder der aktuellen Größe deines Kindes.
Mut zur Gelassenheit
Ist ein Kind vergleichsweise groß oder klein weckt das leider bei vielen Leuten das Bedürfnis dies mit sinnfreien Sprüchen zu kommentieren: „Eure Tochter wächst ja gar nicht vom Fleck weg, gießt sie doch mal!“ oder „Dein Sohn ist ja riesig, was gebt ihr dem denn zu essen?“ Dies kann für Eltern und die betroffenen Kinder gleichermaßen frustrierend sein. Hinzu kommt häufig eine verzerrte Erwartungshaltung von außen. So wird von eher größeren Kindern oft mehr erwartet, was sie denn können oder wie sie sich verhalten sollten, als es bei gleichaltrigen kleineren Kindern der Fall ist. Im Gegensatz zum eher kleingewachsenen Nachwuchs, dieser wird immer wieder viel zu jung geschätzt und man traut ihm Vieles weniger zu. Da hilft nur: Kommentare überhören und drüberstehen. Eltern müssen ihren Kinder kontinuierlich vorleben: Du bist wie du bist und das ist gut so – egal ob du größer oder kleiner bist als die anderen. Vielleicht war der Papa ja früher auch grundsätzlich der kleinste Junge der Klasse und heute sieht man ihm das gar nicht mehr an? Solche persönlichen Anekdoten helfen, die eigene Körperhöhe zu akzeptieren, auch wenn sie nicht der vermeintlich erstrebenswerten Norm entspricht.