Schulfähigkeit erkennen

Wann ist ein Kind reif für die Schule?

Seit PISA wächst die Tendenz, Kinder früher einzuschulen. Besonders bei so genannten Kann-Kindern stellt sich die Frage: Woran erkenne ich die Schulreife meines Kindes?

Autor: Petra Fleckenstein

Eltern suchen Orientierung

Junge schreibt
Foto: © panthermedia.net/ Monkeybusiness Images

Wenn Kindergartenkinder allmählich ins Schulalter kommen, stehen viele Eltern vor einer schwierigen Entscheidung. Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Eintritt in die Schule? Besonders drängend stellt sich diese Frage, wenn ein Kind zum Beispiel nach dem vom jeweiligen Bundesland dafür festgelegten Stichtag sechs Jahre alt wird. Denn ab diesem Stichtag bis zum Dezember Geborene gelten als Kann-Kinder. Das heißt, sie werden in dem Kalenderjahr, in dem sie sechs Jahre alt werden, zwar noch nicht schulpflichtig, können jedoch ebenfalls angemeldet und eingeschult werden. In Nordrhein-Westfalen gilt seit 2011 der 30. September als Stichtag, in Berlin der 31. Dezember. Bei der Frage der Schulfähigkeit ihrer Kinder fühlen sich Eltern oft ziemlich alleine gelassen. Gesetzlich vorgegeben ist zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen lediglich, dass Kinder vorzeitig eingeschult werden können, wenn sie die für den Schulbesuch erforderlichen körperlichen und geistigen Voraussetzungen mitbringen und in ihrem sozialen Verhalten ausreichend entwickelt sind.

Verunsicherung durch PISA

Zusätzlich verunsichernd können die Diskussionen wirken, die seit dem internationalen Schulvergleichstest PISA in Deutschland geführt werden. Als Lösung des schlechten Abschneidens deutscher Schüler wurde da häufig eine generell frühere Einschulung gefordert. So hat das NRW-Schulministerium beispielsweise das Mindestalter für die Einschulung abgeschafft und zudem in Aussicht gestellt, künftig alle Kinder, die in einem Kalenderjahr sechs Jahre alt werden, einschulen zu wollen. Und in Berlin werden 2005 erstmals alle Kinder schulpflichtig, die in diesem Kalenderjahr bis zum 31. Dezember das sechste Lebensjahr vollenden.

Dem gegenüber weisen jedoch Pädagogen auf Studienergebnisse hin, nach denen zu früh eingeschulte Kinder später häufiger eine Klasse wiederholen müssen und geben zu bedenken, dass ein schlechter Start unter Umständen einen langen Schatten auf die gesamte folgende Schulzeit des Kindes werfen kann. In einer Veröffentlichung des schulpsychologischen Dienstes Rheinisch-Bergischer Kreis wird darauf hingewiesen, dass die Ansicht, deutsche Schüler würden zu spät eingeschult, nicht durch den Vergleich mit anderen Ländern, in denen Kinder bereits mit fünf in die Schule kommen, belegt werden könne. Denn betrachte man diese Schulen einmal genauer, so werde deutlich, dass dort zuerst die Fähigkeiten angesprochen würden, um die sich in Deutschland der Kindergarten kümmert. Wichtig ist es also, nicht nur zu fragen: "Ist mein Kind schon mit fünf reif für die Schule?" sondern auch umgekehrt: "Ist diese Schule reif dafür, auch schon ein fünfjähriges Kind angemessen zu fördern?"

Die Erfahrung der Erzieherin nutzen

Man ist heute weitgehend davon abgekommen, die Schulfähigkeit eines Kindes von den Ergebnissen eines einzelnen Schulreifetests abhängig zu machen. Aufschlussreicher ist es dagegen, das Kind über einen längeren Zeitraum in lebensnahen Situationen zu beobachten. Dies können in erster Linie die Eltern und die Erzieherinnen im Kindergarten. Erste Ansprechpartnerin, um die eigene Ansicht über die Schulfähigkeit des Kindes zu überprüfen, sollte für Eltern daher die Erzieherin sein. Die Diplom-Psychologin Renate Niesel hat die Punkte erarbeitet, die Eltern und Erzieherinnen miteinander besprechen können:

  • Wie geht das Kind an eine neue Aufgabenstellung heran? Ist es aktiv und zuversichtlich, dass es eine Lösung finden wird?
  • Zeigt es dabei eine gewisse Ausdauer?
  • Führt es angefangene Tätigkeiten zu Ende?
  • Schöpft es Freude aus dem eigenen Tun?
  • Holt es sich Hilfe, wenn es nicht weiterkommt?
  • Ist es bereit, sich für einen gewissen Zeitraum auf von Erwachsenen angeleitete Tätigkeiten einzulassen und sich darin zu vertiefen?
  • Kann es anderen Kindern und Erwachsenen zuhören?
  • Kann es seine Gefühle angemessen ausdrücken?
  • Ist es selbstsicher und selbstbejahend?

Die Schuleingangsuntersuchung

Einen weiteren Anhaltspunkt kann die in den Bundesländern gesetzlich vorgeschriebene Schuleingangsuntersuchung geben, die durch die örtlichen Gesundheitsämter geleistet wird. In § 3 der "Verordnung über den Bildungsgang in der Grundschule" in Nordrhein-Westfalen heißt es beispielsweise: "Die schulärztliche Untersuchung umfasst die Feststellung des körperlichen Entwicklungsstandes und die Beurteilung der allgemeinen, gesundheitlich bedingten Leistungsfähigkeit einschließlich der Sinnesorgane." In § 6 steht zur vorzeitigen Einschulung: "Die Schulleiterin oder der Schulleiter trifft die Entscheidung unter Berücksichtigung des schulärztlichen Gutachtens und nach einem Beratungsgespräch mit den Erziehungsberechtigten."

Was genau prüft der Schularzt? Hierzu findet sich eine Erläuterung auf der Internet-Seite www.schularzt.de. Danach dient die Schuleingangsuntersuchung neben anderen Aspekten

  • erstens zur Erfassung des körperlichen Entwicklungsstandes einschließlich schwerwiegender körperlicher Erkrankungen - dazu gehören die Diagnostik des Sehens (Periphere Sehfähigkeit, Stereosehen, Farbsehen einschließlich der visuellen Wahrnehmung) und die Diagnostik des Hörens (Periphere Hörfähigkeit einschließlich der auditiven Wahrnehmung) -
  • und zweitens zur Feststellung des individuellen Entwicklungsstandes mit Schwerpunkt in den Bereichen Motorik und Körperkoordination, Wahrnehmung und verbale Kommunikationsfähigkeit.

Nach Ansicht Dr. Robert Wegners, Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes im Kölner Gesundheitsamt, kann der erfahrene Schularzt bzw. die Schulärztin "ganz sicher Hinweise zur 'Schuleignung' geben, unabhängig davon, ob es sich um ein schulpflichtiges oder ein sogenanntes 'Kann-Kind' handelt."

Das Kieler Einschulungsverfahren

Eltern auf der Suche nach Orientierung können sich auch erkundigen, ob an der jeweiligen Schule das so genannte "Kieler Einschulungsverfahren" zur Beurteilung der Schulreife eines Kindes angewandt wird. Dabei handelt es sich um ein Unterrichtsspiel, bei dem eine kleine Gruppe von Schulanfängern (maximal sechs Kinder) von einer Lehrkraft unterrichtet wird, während eine zweite Lehrkraft das Lern- und Sozialverhalten der Kinder beobachtet. Der Unterricht ist so gestaltet, dass die sozialen Fertigkeiten, die Ansprechbarkeit in der Gruppe, die Konzentrationsfähigkeit, die Arbeitsbereitschaft und der motorische Entwicklungsstand mit erfasst und gleichzeitig auch die kognitiven Voraussetzungen des einzelnen Kindes deutlich werden. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt also in der lebensechten Simulation der Situation in der Klasse, bei der auch Aspekte beobachtet werden, die bei Einzel-Einschulungstests nicht abgefragt werden können.

Was ein künftiges Schulkind können sollte

Was ein künftiges Schulkind mitbringen muss, ist nirgendwo im Detail verbindlich festgeschrieben. Und die Fähigkeiten, auf die Pädagogen Wert legen, können mitunter recht unterschiedlich sein. Hier ein Minimalkatalog:

Das sollte ein Schulanfänger können:

  • Sich selbständig an- und ausziehen
  • Allein zur Toilette gehen
  • Sich mehrere Stunden von seinen Eltern trennen
  • Eine Schulstunde lang stillsitzen
  • Sich konzentrieren und Frustrationen aushalten
  • Einfache Formen, Buchstaben und Zahlen nachmalen
  • Fehlerfrei sprechen und einfache Geschehnisse logisch und in der zeitlichen Reihenfolge korrekt erzählen
  • Mit Schere und Klebstoff umgehen
  • Kontakt zu anderen Kindern herstellen und sich in eine Gruppe integrieren

(nach Prof. Richard Michaelis, Universitäts-Kinderklinik Tübingen: "Kinderärztliche Beurteilung der Schulfähigkeit")

Ganz wichtig: Will das Kind in die Schule?

Nicht zu unterschätzen ist jedoch bei der Beurteilung der Schulfähigkeit auch die Schulbereitschaft eines Kindes. Darunter wird die Motivations- und Lernbereitschaft des Kindes verstanden. Zeigt es Lust und Eifer, in die Schule gehen zu dürfen? Freut es sich darauf, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen? Für ein solches Kind kann ein weiteres Jahr im Kindergarten schlichtweg quälend sein. Häufig gilt dies für jüngere Geschwister, die ihren älteren Geschwistern in die Schule nachstreben. Hingegen kann bei Kindern ohne ältere Geschwister, die möglicherweise im Kindergarten eher zu den ängstlichen und schüchternen Naturen gehören, ein weiteres Jahr, bei dem sie einmal die ganz Großen sein dürfen, ein entscheidender Quell werden, um das Selbstvertrauen zu tanken, das zu den wichtigsten Vorraussetzungen für eine stressfreie Schullaufbahn gehört.

Wichtig ist es schließlich auch, zu bedenken, dass der Übergang in die Schule nicht an einem Tag geschieht, sondern eines längeren Prozesses bedarf. So betont Renate Niesel in ihrem Artikel über "Schulreife und Schulfähigkeit", das Schulkind sei nicht vom ersten Schultag an ein "fertiges" Schulkind: "Ein Schulkind wird das Kind erst in der Schule."

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Der zitierte Punktekatalog von Renate Niesel stammt aus ihrem Artikel: "Wie wird unser Kind schulfähig? Elternhaus, Kindergarten und Schule tragen dazu bei"