Sie schubsen, hauen, rennen einfach los

Kleinkind: Der weite Weg zur Selbstkontrolle

Bei kleinen Kindern sind Fühlen und Handeln eins: Sie rennen los, wenn ihnen danach ist, sie schubsen ein anderes Kind, wenn sie wütend sind, oder schreien „Papa ist blöd!“, wenn sie sich machtlos fühlen. Wann und wie lernen Kinder Selbstkontrolle?

Autor: Gabriele Möller

Kleinkindalter: Das meiste passiert ganz von selbst

Kleinkinder Selbstkontrolle
Foto: © mauritius images / Fancy

Kleinkinder sind bekanntlich noch wundervoll spontan. Meine Tochter war einmal beim Fußball mitten im Elfmeterschießen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und weltvergessen sagte: „Guck mal, da krabbelt ein Käfer auf dem Grashalm!“ Nähert sich auf der Straße die Lieblingsnachbarin, die ab und zu bei uns babysittet, kann es schonmal passieren, dass sie von meinem kleinen Sohn eine Umarmung und einen Kuss verehrt bekommt, ohne zu wissen, wie ihr geschieht.  Doch der überwältigende Drang, jeden Gedanken und jedes Gefühl sofort in eine Tat umzusetzen, hat auch Schattenseiten. Dann rennt ein Kleinkind vielleicht mitten im Straßenverkehr los, weil da einfach so viel Kraft im Bauch ist. Oder es sprudelt ihm vor Staunen ganz von selbst aus seinem Mund: „Guck mal, der Mann da hat ja nur ein Bein!“ Eines Tages liegt vielleicht auch dieses Spielzeug im Kindergarten, das es schon lange haben möchte – auch wenn klar ist, dass es eigentlich jemand Anderem gehört. Aber die Hand greift fast automatisch danach.

Kleine Beine entwickeln ein Eigenleben

Solche fast unwiderstehlichen Impulse eines Kindes müssen förmlich mit den Wünschen der Eltern kollidieren. Diese möchten meist, dass ihr Kind rasch lernt, Gefahren zu meiden, andere nicht zu verletzen und höflich zu sein. Eltern und Kind nehmen dieselbe Situation dabei völlig unterschiedlich wahr. Wenn ein Kind, das vor kurzem laufen gelernt hat, sich von der Hand losreißt, tut es dies aus purer Freude am Laufen und vielleicht auch am frisch entdeckten, entwicklungsbedingten Eigensinn. Die Eltern jedoch haben naturgemäß in diesem Moment wenig Verständnis für solche Regungen. Sie eilen erschrocken hinterher, greifen den Ausreißer - und halten ihm erst einmal eine empörte Standpauke. Sie erklären, warum das Weglaufen gar nicht geht und wie gefährlich es ist, vor allem an der Straße. Trotzdem rennt das Kind noch monatelang bei jeder sich bietenden Gelegenheit los. Viele ratlose Eltern fragen sich jetzt, wie sie ihr Kind noch „zur Vernunft“ bringen sollen.

Die Folgen absehen – für ein kleines Kind unmöglich

Hier aber liegt schon das Missverständnis: Vernunft setzt das Bedenken und Bewerten eines Vorhabens voraus. Dabei überschätzen Erwachsene die Fähigkeiten kleiner Kinder oft. Denn je jünger das Kind, desto weniger kann darüber nachdenken, ob das, was es vorhat, auch wirklich richtig, ungefährlich, sinnvoll oder erwünscht ist. Die Folge dieser Überschätzung der kindlichen Fähigkeiten ist oft Verunsicherung bei den Altvorderen: Wenn ein kleines Kind trotz Erklärungen und Ermahnungen ständig wegläuft, andere Kinder bei großer Entrüstung auch mal schlägt, etwas mitgehen lässt oder generell oft „nicht hört“, beschleicht Eltern leicht das Gefühl, hinter diesem Verhalten stecke eine Absicht, vielleicht gar der Ansatz zu einem gestörten Verhalten oder einer schwierigen Persönlichkeit. „Die Eltern unterstellen hier etwas, was für sie als Erwachsene Sinn gibt. Da wo Natur sich meldet, deuten sie Charakter“, beschreibt die Psychotherapeutin und Autorin Ursula Neumann das Dilemma.

Schnelle Eltern gefragt

Für das im Straßenverkehr losrennende Kleinkind bedeutet das: Hier helfen keine entrüsteten Vorhaltungen oder gar „Konsequenzen“, auch wenn eine knappe Erklärung der Gefahr richtig ist. Kleinkinder darf man schlicht nicht aus den Augen lassen, da hilft alles nichts. Und sprinten sie mal los, muss auch der Erwachsene die Beine in die Hand nehmen, um den Sprössling vor Schaden zu bewahren. Das gilt auch für Kleinkinder, die in Richtung des heißen Ofens tapsen, Blumenerde aus Töpfen buddeln oder den Inhalt des Putzschranks erkunden möchten. Wer seine Wohnung kindersicher macht, kann sich aber schon viele Schrecksekunden (und fruchtlos verhallende) Ermahnungen ersparen.

Impulskontrolle – die ewige Baustelle

Natürlich kann und wird ein Kind im Laufe der Zeit lernen, Einfluss auf sein Tun zu bekommen. Sich also auch mal zu bremsen, wenn es ahnt, dass etwas gefährlich, verletzend oder kränkend sein könnte. Diese sogenannte Impulskontrolle aber erfordert nicht nur eine gewisse Einsicht, sondern vor allem eine große innere Kraft. Sie braucht daher viel Zeit, um sich zu entwickeln. Erste Erfolge sind oft erst im Alter von zwei bis drei Jahren zu erhoffen. Eltern, Erziehern und Lehrern kann es dabei jedoch meist gar nicht schnell genug gehen – was unrealistisch ist, vor allem wenn man bedenkt, wie schwer es noch für Erwachsene ist, sich in emotional aufgeladenen Momenten zu beherrschen. „Bis ein Kind gelernt hat, bei starken Emotionen nicht sofort auf die Motorik (Bewegung) zurückzugreifen, ist es ein langer Entwicklungsweg“, betont auch Diplom-Psychologe Andreas Engel von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke).

Worte genügen nicht, wenn die Gefühle toben

Doch wie kann ein Kind allmählich lernen, seine Impulse zu kontrollieren? Hier ist es zwar wichtig, ihm auch zu erklären, warum ein Verhalten gefährlich, unhöflich oder sonstwie ungünstig ist. Doch Reden allein genügt nicht. „Haben Sie schon einmal versucht, Ihrem Kind die Angst vor der Spritze beim Arzt auszureden?“ fragt der Psychotherapeut Dr. Lawrence E. Shapiro hierzu provozierend. „Sprechen beeinflusst die Kontrollzentren im denkenden Teil des Gehirns, hat aber relativ wenig Auswirkung auf die emotionale Kontrolle“, so Shapiro, der sich mit der Entwicklung der emotionalen Intelligenz bei Kindern befasst. Erziehende müssten sich daher an den denkenden und den emotionalen Teil des kindlichen Gehirns wenden. „Wir müssen unsere Kinder trainieren, die ersten körperlichen Anzeichen für ihre emotionalen Reaktionen zu erkennen, damit sie Selbstkontrolle lernen.“

Wenn der Drache zu rumoren beginnt

Wer also früh bemerkt, dass sich gerade ein Wutknubbel im eigenen Bauch zusammen rollt, dass sich die Fäuste ballen und die Augenbrauen steil nach unten wollen, kann manchmal die Notbremse ziehen, bevor ein kleiner Kita-Kollege dran glauben muss und sich einen saftigen Schubser einfängt. Doch dafür muss schon ein wenig Übung mit den eigenen Gefühlen vorhanden sein. Und damit die kommt, ist im Alltag die Erfahrung wichtig, dass alle Gefühle erlaubt sind, und zwar nicht nur die guten. Dass Gefühle also von den Großen nicht weggeredet („Das war doch gar nicht schlimm! Nun lach doch mal!“) oder einfach abgeschnitten werden („Jetzt tut es schon gar nicht mehr weh!“). Ein kleiner Mensch „darf seine Gefühle leben, darf traurig, verzweifelt oder hilfsbedürftig sein, ohne Angst haben zu müssen, die Mutter damit unsicher gemacht zu haben. Er darf böse werden, wenn er seine Wünsche nicht befriedigen kann“, fordert Alice Miller, Psychoanalytikerin und Autorin. Denn nur so könne ein Kind seine Bedürfnisse wahrnehmen und integrieren, und müsse sie nicht abspalten. Das Annehmen der eigenen Emotionen ermögliche erst die Fähigkeit, diese auch zu regulieren, weil das Kind nur so mit ihnen umzugehen lerne.

Tipps vom Erziehungsexperten: Mein Kind kann nicht verlieren - was tun?

Wie man das Feuer der Wut besänftigt

Was Kinder bei diesem natürlichen Prozess sehr unterstützt, ist Gelassenheit bei den Erwachsenen – und keine zu hohen Erwartungen. Wenn mit einem Klein- oder Kindergartenkind mal ein starker innerer Impuls durchgeht, sollten Eltern (Lehrer und Erzieher) dies nicht dramatisieren. Sie müssen zum Beispiel auf Wutausbrüche des Kindes nicht ebenso lautstark reagieren, sondern können warten, bis der Zorn sich beim Kind gelegt hat und es wieder für Worte und gemeinsame Lösungen erreichbar ist. Auch bei kindlichen „Verfehlungen“ hilft Unaufgeregtheit. Hat ein Kind im Kindergarten zum Beispiel etwas mitgehen lassen, können Eltern sagen, dass man nichts nehmen darf, was jemand anderem gehört. Danach wird der Gegenstand dem Eigentümer zurückgegeben, mit einer Entschuldigung des Kindes, versteht sich.

Begibt auch ein Kindergarten- oder Schulkind sich noch oft in riskante  Situationen, sollten Eltern auf der Gefühlsebene argumentieren. Wer nur streng sagt: „Wenn du da herunter fällst, tust du dir weh!“, wird seinen abenteuerlustigen Nachwuchs nur schwer erreichen. Wer aber mit liebevoller Stimme sagt: „Vorsicht, ich möchte nicht, dass du dir weh tust!“, hat da schon größere Chancen, weil er auch eigene Gefühle ins Spiel gebracht hat – und die verstehen Kinder ganz leicht.

Eile mit Weile

Auch der ganz normale und oft etwas hektische Familienalltag hilft Kindern fast unmerklich, allmählich mehr Kontrolle über ihr Verhalten zu bekommen. Denn zwar haben Kinder hier viele spontane Wünsche, die sie am liebsten sofort erfüllt bekommen würden („Mama, pumpst du mir meinen Fußball jetzt endlich neu auf?“, „Papa! Ich hab‘ Durst!“). Doch meist haben die Altvorderen gerade etwas Anderes zu tun, das sie zuerst beenden möchten. Oder es hängt schon das Geschwisterkind in der Warteschleife mit einem zuerst angemeldeten Anliegen. Deshalb lässt es sich bekanntermaßen kaum vermeiden, dass Kinder immer wieder kurze Zeit warten müssen, bis ein Wunsch erfüllt wird. Mütter und Väter brauchen hier weder ein schlechtes Gewissen zu haben, noch sich abzuhetzen, um nur ja dem Wunsch des Kindes möglichst rasch nachzukommen. Denn Wissenschaftler konnten beobachten: Wenn Kinder oft ein paar Augenblicke warten müssen (sog. Bedürfnisaufschub), hilft ihnen dies auch langfristig, mit kleinen Frustrationen gelassener umzugehen. Also nicht mehr gleich mit Wut oder Ungeduld zu reagieren, wenn keine blitzartige Wunscherfüllung geboten wird.

Wichtig ist bei alledem aber auch, dass Kinder genug Möglichkeit bekommen, sich körperlich auszupowern und Spannungen so abzubauen. „Ein Kind ist unfähig, genügend Energie zu verbrauchen, um sich weiterhin wohlzufühlen, wenn seine Tätigkeiten begrenzt werden. Sei es durch unzureichende Zeit zum Spielen im Freien oder durch eingeschränkte Räumlichkeiten zu Hause“, betont die Ethnologin Jean Liedloff.

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!

Bis zum frühen Kindergartenalter entwickelt sich auf ganz natürliche Weise im Kind eine Kontrollinstanz, eine Art innerer „Bremser“. Er gewinnt zunehmend an Kraft und hilft dem Kind, sein Verhalten schon etwas zu beherrschen. „Zu einem gesunden und vollständigen Bedürfnis – wir können auch Begehren oder Antrieb sagen – gehören immer zwei Anteile: ein so genannter agonistischer (lat. wettkämpferischer) und ein antagonistischer (gegenhaltender) Teil - ein Antreiber und ein Gegenspieler, der reagiert und das Bedürfnis steuert“, erklärt die Kinder-Psychotherapeutin und Autorin Ursula Neumann dazu.

Auch wissen die meisten Kinder jetzt bereits, dass es bestimmte Gefahren gibt, und dass man nicht schlagen, nichts wegnehmen, nicht lügen oder Schimpfwörter gebrauchen sollte. Dies hindert sie zwar nicht daran, all dies trotzdem zu tun, es bleibt aber – Dank der wachsenden Selbstkontrolle - in Häufigkeit und Ausmaß meist einigermaßen im Rahmen. Kinder können außerdem die Folgen mancher Handlungen jetzt schon abschätzen, und kennen bereits ein paar wichtige Regeln des Umgangs mit anderen Menschen.

Die Kraft der Worte entdecken

Jetzt können Kinder auch lernen, ein Gefühl nicht nur zu kontrollieren, sondern es auch in Worten auszudrücken, um zum Beispiel Trost zu bekommen oder die Lösung eines Streits zu erreichen. Doch dafür muss man erst einmal Wörter haben. Und das ist gar nicht so selbstverständlich. Familientherapeuten beklagen, dass noch mancher Teenager auch nach langem Grübeln nicht über ein „Bin halt scheiße drauf. Weiß nich‘, wieso…“ hinauskommt, wenn er schildern soll, warum es ihm momentan schlecht geht. Hilflose Sprachlosigkeit jedoch führt dazu, dass Kinder und Jugendliche eher zu einem körperlichen Ausdruck ihrer Gefühle greifen. Schon einem kleinen Kind können Eltern aber helfen, Worte für ihre Emotionen zu finden: „Ich sehe, du bist enttäuscht. Ist es, weil Marie heute Nachmittag keine Zeit hat?“ „Du schaust so wütend. Vielleicht ist der Jannick jetzt ja auch gerade wütend über euren Streit? Willst du ihn mal anrufen?“ „Ich bin gerade richtig fröhlich, weil ich schon mit der ganzen Arbeit fertig bin. Sollen wir zusammen das Lied vom roten Pferd singen?“

„Blöde Mama, ich hab‘ dich gar nicht mehr lieb!“

Nicht immer aber sind Eltern aufrichtig erfreut, wenn ein Kind Worte für seine Emotionen findet. Wenn es schreit: „Ich hab‘ dich überhaupt nicht mehr lieb! Du bist gar nicht mehr mein Papa/meine Mama!“ ist es nicht leicht, das nicht persönlich zu nehmen. Am besten ist es, einmal durchzuatmen und auf die Attacke des Nachwuchses nicht gekränkt zu reagieren. Man kann sagen „Du bist wirklich richtig zornig jetzt. Ich kann das gut verstehen. Trotzdem will ich, dass du jetzt aufräumst. Hinterher kann ich dir etwas vorlesen, wenn du magst.“

Auf schlechte Gefühle gelassen und liebevoll zu reagieren, ist eine Investition in die seelische Gesundheit eines Kindes. „Bis ins Kindergartenalter sind Gefühlsausbrüche in erster Linie soziale Appelle“, sagt Lawrence Shapiro. „Wenn Eltern darauf mit Zurückweisung, Strafen oder Gleichgültigkeit reagieren, lernen Kinder nicht, sich zu beherrschen, sondern nur Gefühle zu unterdrücken oder vorzutäuschen“, so der Autor des Buches „EQ für Kinder – Wie Eltern die Emotionale Intelligenz ihrer Kinder fördern können“.

Schwierig wird es aber auch, wenn ein Kind zum Beispiel ein Gefühl des Erstaunens in Wörtern äußert, die Fremde kränken können: „Guck mal Mama, das Kind da hat Krücken und läuft so komisch!“ Bei jüngeren Kindern hilft jetzt nur eine knappe, ehrliche Antwort („Das Mädchen hat vielleicht kranke Beine oder eine Verletzung“) sowie Ablenkung, um weiterem, hörbarem Nachbohren vorzubeugen. Älteren Kindern können Eltern dasselbe erklären, später aber auch noch an ihre Fähigkeit zum Mitgefühl appellieren. Sie können sagen, dass es für Menschen mit einem Handicap oft unangenehm ist, ständig Aufmerksamkeit zu erregen. Und daran erinnern, dass auch das eigene Kind es peinlich fände, angestarrt zu werden.

Bis es aber soweit ist und der Nachwuchs sich und seine überschäumende Spontaneität im Alltag schon ein wenig unter Kontrolle bekommt, sollten auch Erwachsene sich ruhig ein wenig im erwähnten Bedürfnisaufschub üben – und nicht gleich verzweifeln, wenn hier und da doch das ungebremste Temperament mit ihrem Kind durchgeht.