Verdacht auf ADS

Hallo,
es besteht bei unserem Sohn der starke Verdacht, dass er ADS hat. Wir haben uns bereits an einen Kinderpsychologen gewandt und ab Mitte November werden die Testungen anfangen. Auch der Psychologe meinte nach dem
Erstgespräch, dass viele ihm geschilderte Fakten auf eine Störung hindeuten. Unser Kinderarzt ist der Meinung, unser Sohn hätte kein ADS, sondern er wäre einfach zu früh (mit 5) eingeschult worden und eine Rückstellung würde alle schulischen Probleme (Träumerei, Konzentrationsprobleme, Lernprobleme, Lesen, freies sehr fehlerhaftes Schreiben, inzwischen auch Probleme sicheres Wissen in der Schule anzuwenden, Misserfolge aufgrund mangelnder Konzentration und Aufmerksamkeit) beheben. Hingegen sehen seine Lehrer und auch wir Eltern und auch eine zu Rate gezogene Amtsärztin darin nicht den richtigen Weg.

Er ist gegenüber seiner älteren Schwester extrem beleidigend, ist selbst super schnell eingeschnappt und beleidigt, auf Aufforderungen reagiert er oft erst, wenn wir laut werden. Es soll möglichst immer nsch seinem Willen gehen, andere Meinungen kann er schwer akzeptieren. Neue motorische Sachen zu erlernen ist für ihn eine Qual, nicht weil er es nicht kann, sondern weil er es nicht will (egal ob Laufrad, Fahrrad, Inliner, Schwimmen, Ski fahren). Lässt er “locker“ und überwindet sich, kann es nicht schell genug oder hoch genug sein. Er liebt dann das Risiko und wird unsicher.
Wie können wir unserem Sohn momentan helfen? Was können wir machen, um für uns alle die Situation zu entspannen?
Liebe Grüße
Mckiki

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Hallo mckiki,

die von Ihnen geschilderten Probleme betreffen zwei Bereiche: zum einen die Frage der Einschulung, zum anderen das Verhalten u.a. in der Familie.

Wie Sie der Presse vor einigen Jahren entnehmen konnten, erbrachte die Studie des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Todd Elder von der Michigan State University im Jahr 2010 klare Hinweise darauf, dass in den USA das Einschulungsalter eine erhebliche Auswirkung auf die Diagnosewahrscheinlich von ADHS hat. Die Befunde, die Elder unter dem Titel „The Importance of Relative Standards in ADHD Diagnoses: Evidence Based on Exact Birth Dares“ veröffentlichte, sind teilweise auf Deutschland übertragbar. Sie ergaben, dass bei den jüngsten Erstklässlern im Vergleich mit den um knapp ein Jahr älteren (ältesten) Kindern desselben Einschulungsjahrgangs bis zu 4 mal häufiger eine ADHS attestiert wurde. Ihr Kinderarzt hat also recht, wenn er empfiehlt, die Schwierigkeiten in der ersten Schulklasse nicht zum alleinigen Kriterium für das Vorlagen einer ADHS zu machen, und, bei erheblichen Problemen bereits in den ersten Schulwochen, ggf. eine nachträgliche Rückstellung zu erwägen.

Allerdings beschreiben Sie auch zahlreiche Probleme innerhalb der Familie. Für die Diagnose einer ADHS ist es u.a. eine Voraussetzung, dass die störungsspezifischen Symptome in mehr als einem sozialen Kontext (Familie, Schule, Freizeit) beobachtet werden. Die von Ihnen beschriebenen Verhaltensweisen Ihres Sohnes (beleidigend gegenüber der Schwester, schnell eingeschnappt, erst auf laute Ansprache zu reagieren, nur schwer Grenzen zu akzeptieren, Vermeidung neuer Aktivitäten, Risikobereitschaft) können Aspekte einer ADHS sein, deren Disposition in einer mangelnden sekundären Verhaltenshemmung besteht, klingen jedoch eher nach – weitgehend altersüblichen – Verhaltensproblemen. Hinweise auf das Vorliegen einer ADHS wären impulsives Reden und Handeln trotz klarer, ihm bewusster Sanktionen; ein Ausbleiben von Reaktionen auf Ihre Ansprache auch bei für ihn positiven Angelegenheiten; Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten in Bereichen, in welchen er durch sein Verhalten bereits erheblichen Schaden erlitten hat. Solche Verhaltensweisen sind Hinweise auf eine Ablenkbarkeit und Impulsivität, die nicht willentlich gesteuert und instrumentell eingesetzt werden können.

Im Hinblick auf die Schule würde ich – in Absprache mit Lehrern und Erzieher sowie unter Einbezug Ihres Sohnes – überlegen, ob er nicht doch noch ein Jahr im Kindergarten bleiben kann und soll, v.a. dann, wenn er das selbst will, er in die frühere Kindergartengruppe zurückkehren kann und die seitens der Schule berichteten Probleme im Kindergarten zuvor nicht oder kaum bestanden. Will Ihr Sohn jedoch auf der Schule verbleiben und wäre seine Rückkehr in den früheren Kindergarten nicht möglich, muss zwischen der Skylla der Schulprobleme einerseits und der Charybdis eines erneuten Neuanfangs auch im Kindergarten anderseits abgewogen werden.

In der Familie empfehle ich, unsoziales und beleidigendes Verhalten klar zu sanktionieren sowie die Teilnahme an (auch ihm unvertrauten) Aktivitäten mit altersentsprechender Behutsamkeit und Zuwendung schlicht vorzugeben und einzufordern. Ignorieren Sie sein Verhalten, wenn er schmollt und keinen erkennbaren Grund dazu hat. Beendet er Provokationen und Verweigerung, dann seien Sie, egal wie lange er für den emotionalen Umschwung brauchte, nicht nachtragend, sondern würdigen Sie sogleich sein positives Verhalten. Vermitteln Sie ihm, dass sie ihn anerkennen für alles, das er kann, aber auch für das, was er versucht. Zeigen Sie ihm, wie spannend es sein kann, Neues zu erproben, und wie unbegründet seine etwaigen Ängste in Ihrer Gegenwart und im Vertrauen auf Ihre Hilfe, kann er etwas zunächst nicht, letztlich sind.

Und das Wichtigste: Machen Sie sich und ihm keine Angst, dass die gegenwärtigen Probleme die Vorzeichen weitaus größerer und andauernder Probleme sind, wie sie sich nicht zuletzt aus der ADHS ergeben. Das könnten die von Ihnen geschilderten Verhaltensweisen Ihres Sohnes zwar in der Tat sein, v.a. wenn sie sich in den kommenden Monaten in Schule oder Kindergarten verschärfen, doch erhöhen Sie durch Ihre eigene Unsicherheit und Sorge als Eltern zugleich die Unsicherheit des Kindes und damit die Wahrscheinlichkeit von Verhaltensproblemen – völlig unabhängig vom Vorliegen einer ADHS.

Gegen eine ADHS-spezifische Diagnostik ist nichts einzuwenden, solange Sie die Befunde dort einordnen, wo sie hingehören: als Erfassung eines situativen Status in einer Übergangsphase der kindlichen Entwicklung, die häufig von Anpassungsschwierigkeiten der Kinder gekennzeichnet ist. Erst wenn klar ist, dass die Gewöhnung und Beruhigung entweder im neuen Schülerleben oder aber nach der Rückkehr in die vertraute Kindergartenumgebung das Problemverhalten nicht einzudämmen vermögen, sollten sie, sofern die Diagnose dann gestellt sein wird, spezifische Schritte zur Behandlung der ADHS angehen.

Ich hoffe, diese abwägenden Gedanken helfen Ihnen weiter. Alles Gute für Sie und Ihr Kind,

Johannes Streif

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Danke für ihre Antwort, leider habe ich vergessen zu schreiben, dass unser Sohn bereits 7 Jahre alt ist und bereitsbin die dritte Klasse geht.

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Hallo mckiki,

in diesem Fall müssen Sie mit den Problemen umgehen, wie sie nun gegeben sind, ganz gleich, ob eine spätere Einschulung eine andere Entwicklung Ihres Sohnes bedingt hätte. An dieser Stelle machen Diagnostik und ggf. Therapie der ADHS natürlich Sinn, denn jetzt kann es nicht mehr darum gehen, die Uhr zurückzudrehen und die Umgebung zu ändern, sondern gemeinsam mit dem Kind zu schauen, wie es sich hinreichend mit seinem Lebensumfeld, zu dem die Schule ja inzwischen fest dazugehört, einigermaßen arrangiert. Hilft die Diagnose der ADHS und ihre spezifische Therapie dabei, sollten die damit verbundenen Vorteile für das Kind auch genutzt werden.

Obschon die ADHS eine valide psychiatrische Diagnose ist, die mit den üblichen Instrumenten aufgrund der für die Störung typischen Symptomatik zuverlässig gestellt werden kann, sollte die Therapie der ADHS stets im Hinblick auf die konkreten Lebensbedingungen des Betroffenen erfolgen. Es ist nicht ein absolutes Maß an Symptomausprägung, das bestimmte therapeutische Ansätze bis hin zur Medikation quasi automatisch angezeigt erscheinen lässt, sondern die Belastung des betroffenen Kindes und seines Umfelds durch die Symptomatik. Geht es Ihrem Kind in der heute gegebenen Situation mit seinem Verhalten schlecht, sollten Sie daher das Vorliegen einer ADHS erwägen und Ihr Kind durch Fachleute testen lassen. Ergeben sich auf diese Weise therapeutische Optionen, sollten Sie diese in der Folge prüfen und nutzen.

Viel Erfolg,
Johannes Streif

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