Bilde ich mir das ein, oder ist das so?

Hallo in die Runde!

Angelehnt an eine Diskussion und auch Erfahrungen aus dem Umfeld, ist mir aufgefallen, dass heute sehr gerne mit Bezeichnungen für psychische Störungen um sich geworfen wird. Gefühlt ist jeder Narzisst, Hochsensibel, hat ADHS, toxisch, usw. Dasselbe gilt auch für Bezeichnungen wie Bedürfnisorientiert, usw.

Auch kenne ich viele junge Menschen, die ihr schlechtes Verhalten oder ihre Einstellung mit der Psyche rechtfertigen. Oder Eltern, die in ihrem 12 Monate alten Kind schon ein Kind mit Hochbegabung oder ADHS „diagnostizieren“.

Auch muss bei den kleinsten Probleme direkt jeder Beratung oder psychologische Betreuung in Anspruch nehmen.

Und gefühlt kam das alles die letzten 3-4 Jahre. Vorher hab ich das kaum auf dem Schirm gehabt, aber jetzt hört man das irgendwie überall und in allen möglichen Situationen.

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich schon schnappatmung bekomme, wenn eine Spielplatz Mama mir erzählt wie hochbegabt ihr Kind doch im klettern ist 😅 (überspitztes Beispiel)

Mich persönlich nervt das tatsächlich enorm. Empfindet ihr das auch so extrem? Wie geht ihr mit solchen Leuten um? Wann ist die Welt so kompliziert und anstrengend geworden?

Ich liebe echt ein simples Leben und merke, dass ich mich von diesen Leuten distanziere, weil mich das wirklich Mega doll stresst, dass Dinge nicht einfach mal einfach sein können…

Bearbeitet von LandhausLiebe
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In meinem Umfeld nicht.

Insgesamt wird ADHS, Hochbegabung (heißt nicht unbedingt Wunderkind) usw mehr Aufmerksamkeit geschenkt, weil mehr Menschen darüber Bescheid wissen. Häufig ist es nur ein Verdacht auf xy. Und ich finde es nicht schlimm dem nachzugehen. So können wirklich Betroffene dann früher Hilfen bekommen oder besser verstanden werden.

Naja, und Narzissmus war doch vorher nie ein Thema. Wer wusste denn darüber Bescheid. Natürlich hat es das trotzdem gegeben und das nicht zu knapp.

Es wird heutzutage viel eher der Verdacht auf diese Dinge ausgesprochen. Aber wenn es dafür sachliche Anhaltspunkte gibt finde ich das nicht schlimm.

Ich finde tabuisieren und tot schweigen schlimmer. Nicht darüber sprechen, dann gibt es das nicht.

Ist doch toll, dass heute Menschen viel eher bereit sind sich Hilfe in Bezug auf die Psyche zu holen.
Wieso triggert dich das so?

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Ich bin definitiv bei dir, dass WENN eine solche Sache vorliegt, dem nachgegangen werden sollte.

Aber ich finde, dass das bei jeder Kleinigkeit direkt an den Tisch geholt wird. Mein Kind ist 1,5 und spricht noch nicht? Bestimmt entwicklungsverzögert? Mein Kind ist 1,5 und kann schon dieses oder jenes? Bestimmt hochbegabt! Ich persönlich finde das einfach anstrengend.

Was mich aber am meisten stört, ist dass unangemessenes Verhalten gerne damit entschuldigt wird. „Er ist halt hochbegabt.“ „sie hat halt ADHS.“ „Er ist halt hochsensibel.“ usw…

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Mich juckt es null ob Karin findet, dass ihr zweijähriger hochbegabt ist, oder Hilde im 1. HJ der 1. klasse die Entdeckerschule abgechekt.
Sollen sie halt machen 🤷🏻‍♀️
Heutzutage wollen viele einfach eine Erklärung für dieses oder jenes Verhalten. Den „Zappelphilip“ aus den 90ern gibt’s halt nicht mehr.
Damals stand einem durch das Internet aber halt auch nicht die Flut an Infos für verschiedenste
Erkrankungen, Einschränkungen etc. zur Verfügung. Man hatte also auch gar nicht die Möglichkeiten sich einzulesen wie heute.
Ich denke das spielt eine große Rolle.

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Also für mich persönlich war die Erkenntnis, dass meine Mutter eine NPS hat, der Heilsbringer.
Von Klein auf gab ich mir die Schuld an allem, dass meine Mutter mich nicht richtig geliebt hat, dass ich ihr nie reichte, dass sie mich so mies behandelt hat. Es war für mich wie ein Befreiungsschlag! Endlich ergab alles einen Sinn und ich konnte abschließen.
Mein mittlerer Sohn (fast 19) hat ADS und eine Hochbegabung. Wir sind mit ihm damals zum Arzt, da ich dachte, dass er sich aufgrund meiner schweren Erkrankung so merkwürdig verhält. Gebracht hat uns die Diagnose nicht viel, aber ich hatte halt noch mal ein besonderes Auge auf meinen Mittleren und wir haben ihn mit Therapien unterstützt. Die Diagnose habe ich aber nie an die große Glocke gehängt, um Verhaltensweisen zu entschuldigen.
Man muss halt immer mit wachen Augen und eingeschaltetem Verstand durchs Leben gehen und darf sich nicht auf Diagnosen ausruhen--aber Diagnosen können helfen, die Dinge zu verstehen.

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Darf ich es mal umformulieren?
Man schenkt heute "Besonderheiten" (neutral formuliert - nicht zwingend positiven Besonderheiten) mehr Beachtung und macht sich Gedanken um mögliche Erklärungen.

Statt nur zu sagen "ich bin ungeschickt, vergesslich, schüchtern, kann mich zu dem und dem nicht überwinden, habe Angst etc." sucht man eine Erklärung, wenn das immer wieder vorkommt und bei anderen im Umfeld nicht so ist. Früher hätte man sich geschämt und zurückgezogen. Hätte versucht, den Makel zu überspielen. Heute sagt man "ich habe eventuell ADHS, ich habe vermutlich eine depressive Phase, ich glaube, ich bin hochsensibel, mir wird immer schlecht, wenn ich viele bunte Lichter sehe, etwa auf Werbung etc." - man ist nicht einfach nur "komisch, anders, seltsam", man muss sich nicht ständig "zusammenreißen und einfach mal normal sein", sondern man hat eine Erklärung, warum bestimmte Dinge immer wieder passieren oder einfach anders sind als bei anderen.

Ob das nun eine echte Diagnose ist oder nicht, ist erst mal egal, es geht darum, sich irgendwo einzuordnen, statt sich abzusondern, zurückzuhalten und zu schämen.

Hochbegabung da mal ausgenommen. Dafür muss man sich in der Regel nicht schämen. Sie kann aber auch eine Erklärung sein für Verhaltensweisen, die man eher ungewöhnlich findet. Genauso wie Asperger etc.

Warum soll man denn nicht selbst nach Erklärungen für Auffälligkeiten finden, die einen (oder das eigene Kind) eben von anderen abheben. Eine "Diagnose" ist eine kurze, wortarme Erklärung für oft umfangreiche Andersartigkeiten, die sonst oft schwer zu erklären sind. Ob diese Selbstdiagnosen immer stimmen, ist eine andere Frage, aber oft kommt man selbst und das Umfeld damit besser klar, als wenn jemand im Einzelnen erklärt, was bei ihm "anders" ist.
"Ich brauche viel Zeit für mich, viele Menschen auf engem Raum ertrage ich nicht, ich muss mich manchmal zurückziehen und 10 min auf meinem Trampolin hüpfen" - oder "ich habe vermutlich Asperger, ich muss mich öfter mal zurückziehen".
"Das ist mir alles zu viel, ich muss hier raus, es ist hier so bunt. Aus der Nachbarwohnung höre ich Musik, ich drehe noch durch! Diese ganzen Menschen hier machen mich kirre, ich bin überfordert!" Was für ein unsozialer, seltsamer Kauz!
Oder: "Ich bin hochsensibel, die ganzen Reize hier überfordern mich, ich muss mich mal kurz zurückziehen!" Ah, okay, das verstehe ich. Er ist hochsensibel, nicht einfach nur "überempfindlich" (was das gleiche bedeutet, aber viel negativer empfunden wird und eher mit "reiß dich doch mal zusammen!" quittiert wird).

Meine Mutter hat relativ oft gesagt, sie hätte einen Krampf unter dem Fuß. Dafür gab es keine Erklärung. Irgendwann hat es genervt, man hat es hingenommen, sich aber gewundert: Warum hat SIE das denn immer und kein anderer? Hätte es dafür eine Erklärung gegeben, wäre man damit evtl. gelassener umgegangen?
Wenn jemand dauernd etwas hat/ sagt/ macht, das andere nicht haben/ sagen/ machen, dann wundert man sich doch irgendwann. Der Betroffene vielleicht auch - warum ist das denn nur bei mir immer so schwierig?
Und dann trifft man irgendwann auf eine Erklärung und wendet die erst mal an, bis man Zweifel daran bekommt oder eine andere Erklärung besser passt.

Und ja, "er ist ein Narzisst" mag sicher oft medizinisch nicht zutreffen, klingt aber besser als "er ist ein egoistisches A-Loch!" - verbunden mit Zweifeln, ob man die Behandlung doch irgendwie verdient hat, weil derjenige immer Gründe findet, warum man selbst an der miesen Behandlung durch ihn Schuld ist. "Er ist ein Narzisst" kann dann befreiend wirken, weil es sowohl einen selbst als Opfer als auch den Betroffenen freispricht von bewusster Niedertracht bzw. das Opfer von den nagenden Zweifeln, was man denn mal machen sollte, um besser behandelt zu werden.

Analog: Vieles würde man sich von den Mitmenschen nicht bieten lassen! Man wäre bei so einer Behandlung auch beleidigt und verunsichert!
Wüsste man, dass der andere gerade betrunken ist oder geistig behindert oder vielleicht Autist, würde man sich viel mehr bieten lassen, weil man eine Erklärung hat und der andere sich nicht einfach nur komisch oder schlecht benimmt!
Das hilft doch ungemein!
Auch Betroffenen, die merken, dass sie anecken, sich aber einfach nicht ändern können, trotz bester Vorsätze!

Bearbeitet von Toschkalee
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Ich erlebe das primär im Internet und nur gelegentlich im echten Leben.

Mein Eindruck ist, dass die Leute entweder nicht verstehen, was wirklich gemeint ist, oder Tendenzen verabsolutieren.

Also quasi: "Mein Exfreund war ein Narzist" - weil sie glauben, dass "Narzist" das Gleiche wie "Egoist" ist.
Oder: "Mein Kind ist hochbegabt.", weil es vielleicht eine besondere Sprachbegabung (oder was auch immer) hat, ggf. auch "überdurchschnittlich begabt".

Vielleicht erleichtert es ihnen auch, bestimmte Merkmale o. ä. zu definieren, vielleicht auch zu entschuldigen bzw. rechtfertigen.

Für mich wird damit aber oft die tatsächliche Bedeutung verwischt. Und ich finde auch, dass damit die tatsächlichen Diagnosen ihre Bedeutung verlieren.
Wenn jeder hibbelige Mensch sofort ADHS hat, dann nehmen die Menschen nicht mehr ernst, wie starke Probleme ein richtiges, ausgeprägtes ADHS mit sich bringen kann.

7

Ich denke, dass sich heute auch eher Laien eine Diagnose erlauben und die dann oft von Eltern gerne angenommen wird, ohne sich wirklich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Außerdem werden gerade Kids in der GS heute viel stärker " untersucht" als noch vor 20 Jahren.

Bei der Großen damals in der GS waren x Kids mit Diagnose vom Arzt-- bei 17 Kids waren knapp 8 diagnostiziert.
LRS, Dyskalkulie, beides.....

Beim Kurzen jetzt in der 4 Klasse - sind 3 Kids, die andere Hefte bekommen, definitiv 1 Kind mit LRS und 1 Kind mit GB.
Von 16 -- und das sind nur die, die man nebenbei mitbekommt.


Als ich in der GS war- sind wir mit 29 in der 1 Klasse gestartet - in der 4 waren wir 17.
1 Kind ist umgezogen ..
Die anderen 11 kamen entweder auf die " Sonderschule" oder sind sitzen geblieben.
Da hat keiner genau hingeguckt ...

Und 1 Mädel hätte definitiv auch LRS --- der Eintrag in meinem Posiealbum ist der Klassiker bei LRS - und der Eintrag war in der 4 Klasse.....

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Hej,

im privaten Umfeld habe ich es weniger aber mich nervt es vor allem auf Social Media, dass viele meinen bei ADHS oder Toxisch, Narzissmus, hochbegabt oder Lipödem usw "mitquatschen" zu müssen.

So ein typisches Beispiel sind zB Leute, die dauernd ihr Essen posten.
Hier ein Eis, da mittags essen gehen.
Dreimal die Woche opulent im Lokal frühstücken mit Freunden, Avocadobroten, Croissants und Co, dazu jede Menge süße Säfte und abends noch in dieses und jenes Lokal, später Cocktails, Kuchen, Süßigkeiten usw.

Und dann kneift die Jeans, das Kleid sitzt eng oder sie kriegen den Hosenbund nicht mehr zu und kokettieren mit einem Lipödem herum, obwohl es lediglich ein paar (salopp gesagt) "angefressene Pfunde" sind.

Oder sie haben Streit mit einem Kollegen oder vertragen die Kritik von einem Follower nicht und bezeichnen den Menschen gleich als Narzisst oder Toxisch.

Und wenn sie den Autoschlüssel nicht finden können oder sehen, dass der Reisepass abgelaufen ist, dann haben sie gleich ADHS (hihihi).

Sowas finde ich fürchterlich und absolut respektlos denjenigen gegenüber, die wirklich damit zu kämpfen haben.

Bearbeitet von flamingoduck
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Bearbeitet von flamingoduck