Liebe Community
Vor 6 Wochen verstarb meine Mutter mit 84 nach einer 2 jährigen Krebsgeschichte. Sie war mir gegenüber immer eine verschlossene, stille und kalte Mutter. Ich weiß nicht, ob sie anders gewesen wäre, hätte sie sich bei meinem despotischen Vater durchgesetzt. Jedenfalls war meine Kindheit nicht unbeschwert. Beschimpfungen, Beleidigungen und Schweigen war Alltag. Für alles was schieflief wurde ich verantwortlich gemacht. Insofern waren Schuldgefühle schon immer ein Thema bei mir.
Vor ca. 20 Jahren habe ich den Kontakt abgebrochen, nachdem ich indirekt für den Freitod meines Cousins verantwortlich gemacht wurde („Man sieht ja, was dabei rauskommt“) Mir wurde der Zusammenhang zwischen meinem Verhalten und seinem Tod nie erklärt. Für mich aber keine Überraschung, war ich doch seit eh und je der Sündenbock für alles.
Ich schrieb damals einen Brief an meine Eltern, in dem ich beschrieb, wie ich sie erlebt habe. Ich habe damals sehr viel geweint. In ihrer Welt war das „hysterisch“ und sowieso nicht ernstzunehmen, so wie sie von klein auf meine Ängste und Sorgen nie ernst nahmen. Psychologisch war ich wohl ein ungesehenes Kind. Das wurde dann noch getoppt, als sie mich doch immer sehr wohl sahen, wenn es um Schuld ging.
Jedenfalls war das in der Welt meines Vaters ein bitterböser Brief voller Vorwürfe. Ich war zu dieser Zeit alleinerziehend mit 2 kleinen Kindern und nach der Ansage: „Sieh halt zu, wie du klar kommst“ war für mich klar, dass ich dort nichts mehr zu erwarten habe.
Nur meine Tante, die Schwester meiner Mutter und ihr Mann nahmen sich meiner Kinder und mir an, luden mich ein paar mal im Jahr ein, besuchten uns, beschenkten die Kinder und waren doch fast 5 Jahre Ersatzoma und -opa. Meine Tante war das ganze Gegenteil meiner Mutter: sehr gütig, warmherzig und freundlich. Von ihr und meinem Onkel hörten wir nie ein böses Wort.
Sie bemühten sich, den Kontakt zu meinen Eltern wieder herzustellen, was nach 5 Jahren halbwegs gelang. Meine Eltern waren immer nur mit sich selbst beschäftigt, so blieb das auch. Über den Brief wurde nicht mehr geredet und bei meinem Vater machte sich Demenz bemerkbar, die rasch voran schritt. Obwohl mir immer jede Hilfe von ihnen versagt blieb, half ich doch, wie es in meiner Kraft stand. Bis ich ihr eines Tages sagte, dass ich nicht jedesmal wenn der Vater hinfällt und sie ihn nicht wieder aufhelfen kann sofort mich auf den 30 km weg machen kann.
Als er starb hatte ich Null Gefühle. Das war vor 12 Jahren.
Meine Mutter bekam 2022 die Diagnose Krebs und mein Bruder und ich kümmerten uns abwechselnd um Einkäufe und Arztbesuche.
Als es zu Ende ging, fuhr ich fast täglich in die Palliative am Wochenende verbrachte ich Vormittag und Nachmittag am Sterbebett. Um sie habe ich geweint und sie gefragt, ob sie mir alles verziehen hat, was ich in ihren Augen falsch gemacht habe. Sie winkte ab, ach, ist schon gut. Meine Hoffnung, dass auch umgekehrt sie mich für irgendwas um Verzeihung bittet, erfüllte sich nicht. Auch als ich ihr einmal entgegenkam, mit „Gell Mutti, wir haben uns alles verziehen und wenn du was falsch gemacht hast, sollst du wissen, dass auch das verziehen ist.“ Auch da winkte sie ab, „ach wer macht schon alles richtig.“ Ihr Kampf dauerte 11 Tage. Für mich ebenfalls eine sehr anstrengende Zeit. Sie starb am 11.9.
Auch wenn es mir danach langsam wieder besser ging, erholte ich mich von dieser Sache nur langsam. Und just in dem Augenblick, als ich wieder begann, meinen Blick auf die positiven Dinge des Lebens zu richten, bekam ich letzten Sonntag Mittag einen Anruf von meinem Onkel, dass meine Tante auf der Palliative liegt, dass ich mich beeilen soll, wenn ich sie noch mal sehen will, es könnte schnell gehen. Ich habe mich an diesem Tag gegen eine Fahrt von 100 km über die Autobahn entschieden, weil ich mich seelisch und körperlich nicht in der Lage sah, die Strecke zu bewältigen. Ich hoffte, dass ich in der Woche jemanden finde, der mich fährt, evtl. sogar mein Bruder. Ich hab das auch am Montag nicht versucht, obwohl mein Arbeitgeber immer Verständnis hatte wegen familiärer Angelegenheiten, die Arbeitszeit zu verlagern.
Am Montag Abend ist sie gestorben. Es waren 33 Stunden, von denen 3 gereicht hätten, ihr noch mal eine Freude zu machen und ihr etwas zurückzugeben, was sie mir gegeben und bedeutet hat.
Tja und nun habe ich wirklich berechtigte Schuldgefühle und mache mir Vorwürfe ohne Ende. Meine Gedanken kreisen immer wieder um den Moment am Sonntag, an dem ich entschieden habe, nicht zu fahren. Ich stelle mir vor, wie sie sich gefreut hätte, mich noch einmal zu sehen. Und ich habe nur gedacht: oh nein, nicht schon wieder! - Dass ich mir mit meiner Entscheidung, nicht zu fahren, weil ich meinte die schlechten Gefühle nicht schon wieder aushalten zu können, mir meine Schuldgefühle, die ich jetzt habe,selber zu verdanken habe. Während ich bei meiner Mutter mich so verausgabt habe und mir keine Vorwürfe machte, holten sie mich doch bei dieser Entscheidung ein. Was habe ich mir gedacht? Dass ich immun sei? Meine Tante hat mir mehr Mütterlichkeit entgegengebracht als meine eigene Mutter. Und ich lies sie im Stich.
Schuldgefühle lassen mich nicht trauern
Das kannst du jetzt im Nachhinein so sehen. Allerdings hattest du einen guten Grund nicht zu fahren. Du hast dich dazu nicht in der Lage gefühlt und das ist doch auch verständlich.
Jetzt sei mal nicht so hart. Ok, du hast dich nicht am Sterbebett verabschiedet. Dann gehst du eben zur Beerdigung und erweist ihr da die letzte Ehre. Sag deinem Onkel, dass es dir sehr leid tut,dass du nicht mehr rechtzeitig da warst. Die beiden waren nett zu dir. Sag ihm, dass du das sehr zu schätzen weißt und frag ihn, ob du ihn irgendwie unterstützen kannst.
Vielen Dank für deine Antwort. Natürlich gehe ich zur Beisetzung und ich habe ihm auch schon telefonisch gesagt, dass ich das sehr betäube, es nicht wenigstens versucht zu haben. Ich konnte das aber nicht sagen, ohne selber in tränenerstickter Stimme zu verfallen und befürchte, ihn damit noch zusätzlich zu belasten.
Mein Onkel hat mich gebeten zur Feier zu fotografieren. Er macht ja seit vielen Jahren eine Art digitale Chronik und offensichtlich bleibt er auch trotz Krankheit und Trauer da noch dran. Er will nur an diesem Tag nicht selber fotografieren. Diesen Wunsch erfülle ich ihm natürlich sehr gerne und ich habe einen Brief vorbereitet, in dem ich das geschrieben habe , was ich meiner Tante noch gerne gesagt hätte. Sie haben ja immer zusammen agiert und all die Güte kam ja auch von ihm mit. Ich denke, für ausführliche Dankbarkeit muss man auch nicht bis zum letzten Tag warten.
Das einzig positive ist, dass meine Tante und ich immer alles gesagt haben. Da gab es nie etwas offenes, ungeklärtes. Trotzdem gehe ich fast zu Grunde, bei dem Gedanken, ihr die letzte Freude vorenthalten zu haben. Leibliche Kinder hatten sie leider nicht.
Natürlich versuche ich, wenn ich zu meinem Onkel gerufen werde, nicht wieder zu versagen. Aber keiner weiß, ob ich die Chance kriege, deshalb der Brief.
Ich denke gerade auch der Anruf von Deinem Onkel, es war vielleicht mehr so gemeint dass er dachte DIR tut es gut noch einmal sie sehen, Abschied nehmen. Ich weiss nicht genau wie der Zustand von Deiner Tante war an ihren letzten Tagen. Aber ich denke nicht dass sie Dir böse wäre. Vielleicht war sie schon so müde, von Schmerzen und Sterbeprozess gezeichnet dass sie nicht mehr viel mitbekommen hat wer sie besucht hat oder nicht.
Meine Tante ist an Krebs gestoren und die letzten Tage vor ihrem Tod hat sie sogar ihre Kinder nicht mehr erkannt...
Ich hoffe ich kann Dir damit ein bisschen helfen.
Und ihre Familie, Dein Onkel wird sich auch jetzt noch über Besuche und Anteilnahme freuen.
Vielen Dank. Ich bin schon etwas gefasster und habe mit meinem Onkel telefoniert. Hab ihm gefragt, wie er zurechtkommt und zum Glück gibt es für mich was zu tun. Am Montag fahre ich hin. Ich werde was vorkochen, das will er zwar nicht, ich mach es aber trotzdem und ich soll ihm mit der Wäsche helfen. Dann gibt es noch einiges zu bereden, was seine Zukunft betrifft und ich hoffe, ich krieg an dem Tag die Worte hin, die ich noch sagen muss.
Hallo,
wie geht es dir? Wie war dein Gespräch mit deinem Onkel?
Liebe Grüße