Schwere Diagnose, langer Weg

Autismus bei Kindern erkennen

Autismus – das ist viel mehr als das Klischee vom beziehungsunfähigen Mathegenie, tatsächlich hat Autismus viele unterschiedliche Gesichter. Unser Artikel gibt einen Einblick, was alles dazu gehören kann, wie schwierig eine Diagnose ist und welche Hilfen dann möglich sind.

Autor: Kathrin Wittwer

Der lange Weg zur Autismus-Diagnose

Autismus: Junge am Fenster
Foto: © iStock, MariaDubova

„Es gab kleine Zeichen, dass Leon* anders war“, erinnert sich Jana*, die Mutter des heute Sechsjährigen. „Schon als Baby konnte er keinen Blickkontakt herstellen oder reagierte nie, wenn man ihn rief. Das ging Jahre so.“ Motorisch entwickelte sich Leon normal, sprachlich gar nicht. Dann kamen Wahrnehmungsstörungen dazu, er konnte Flüssigseife nicht mehr berühren und hatte Wutanfälle, bei denen er den Kopf hart auf den Boden schlug. Jana dachte an Autismus, mehrere Ärzte wiegelten ab. Schließlich wechselte die Familie zu einem Kinderneurologen. Von ihm wurden Leon und sein bis dato unauffälliger einjähriger Bruder Nils* gleich beim ersten Besuch zwei Stunden lang untersucht. Das Ergebnis: der Rat, sich mit Frühförderstelle und Sozialpädagogischem Zentrum in Verbindung zu setzen und sieben Überweisungen, auf denen unter vielem anderen erstmals das Wort Autismus stand. Und das war nur der Anfang ihres langen Weges. Erst zwei Jahre später stand offiziell fest: Beide Kinder sind Autisten.

Durch einen neuen Test frühere Diagnose

Durch einen neuen Test (6/2017) gibt es jetzt Hoffnung, dass der schwierige und lange Weg bis zur Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung künftig verkürzt werden kann. Wissenschafler haben in einer Studie der American Association for the Advancement of Science herausgefunden, dass durch eine bestimmte Form der Magnetresonanztomographie kombiniert mit einem Computeralgorithmus Autismus bereits bei Kindern im Alter von sechs Monaten vorhergesagt werden kann. Und dies mit einer hohen Treffsicherheit. Wie auf aerzteblatt.de berichtet, wurden 59 Kinder untersucht. Bei 11 von ihnen wurde dann im Alter von zwei Jahren eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Bei 9 dieser 11 Kinder konnte die Erkrankung durch die im Alter von 6 Monaten gewonnenen Daten vorhergesagt bzw. nachträglich bestätigt werden. Auch das Nicht-Erkranken der anderen 48 Kinder wurde korrekt erkannt.

Autismus hat viele Gesichter: „den“ Autisten gibt es nicht

Autisten, so impliziert es der griechische Wortstamm „autos“ = „selbst“, sind Menschen, die mehr oder weniger in sich selbst leben. Probleme, mit anderen zu kommunizieren und in Beziehung zu treten, gelten als Kernmerkmale. Stereotype Handlungen, fehlendes Einfühlungsvermögen und Sprachbesonderheiten sind einige weitere Charakteristika, die Autisten zugeschrieben werden. Allerdings: Ob und in welcher Form sie sich zeigen, wie stark man sie bemerkt und mit welchen Konsequenzen, ist stets individuell, kann sich im Laufe des Lebens auch ändern.
Jana beobachtet beispielsweise an ihren Söhnen: „Leon ist distanzlos – Nils kann Nähe nicht leiden, Leon kommt mit vielen Menschen kaum zurecht – Nils hatte damit nie ein Problem.“ Auch bei der Intelligenz gibt es eine Variation von schwerer Minderung bis zur  Hochbegabung. Zudem treten häufig parallel noch andere Auffälligkeiten wie etwa Epilepsie oder ADHS auf, deren Symptome nicht immer klar abzugrenzen sind. Auch Kinder mit Down-Syndrom können zugleich Autisten sein, und da sich auch in diesen Fällen einige Symptome gleichen, wird eine klare Diagnosestellung oft erschwert.

Atypischer Autismus: Symptome von Asperger oder Kanner

Die Bandbreite der Ausprägungen wird heute unter dem Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) zusammengefasst. Noch kategorisiert man darin aber trotzdem, je nach Symptomschwerpunkten, verschiedene Erscheinungsformen: Bei „frühkindlichem Autismus“, dem Kanner-Syndrom (wie es Nils aufweist), sind die Kinder bereits früh in sich gekehrt, nehmen wenig Anteil an der Umgebung, lernen manchmal gar nicht sprechen oder verlieren diese Fähigkeit wieder, sind auf Rituale fixiert und werden bei Veränderungen aggressiv oder ziehen sich zurück.
Als „High Functioning“-Autisten (wie Leon) bezeichnet man Kinder, die ähnliche Kriterien erfüllen, ihre Verzögerungen aber durch einen höheren Intellekt besser ausgleichen können und motorisch fit sind. Beim „atypischen Autismus“ setzen die Symptome erst nach dem dritten Geburtstag ein und zentrieren in sehr geringen geistigen Fähigkeiten.
Das „Asperger-Syndrom“ ist ebenfalls in den ersten drei Jahren kaum bemerkbar, wird bei vielen, wenn überhaupt, sogar erst im Teenager- oder Erwachsenenalter erkannt. Asperger-Autisten sprechen oft früh und eher altklug. Sie sind normal bis – meist auf bestimmten Gebieten – hoch begabt. Eigenheiten fallen in der nonverbalen und zwischenmenschlichen Kommunikation auf, zum Beispiel an fehlender Gesichtserkennung und wortwörtlichen Interpretationen.

Ordnungsliebe allein macht noch keinen Autisten

Anhand solcher verallgemeinernden Beschreibungen zu bestimmen, ob das eigene Kind Autist sein könnte, wäre jedoch äußerst voreilig. „Eltern haben zwar meist ein gutes Bauchgefühl, wenn ihr Kind anders ist. Aber aus einigen wenigen Anzeichen Autismus abzulesen, ist so gut wie unmöglich“, warnt Dr. Maria Schubert. Die Diplompsychologin leitet in Rostock die Autismus-Ambulanz, ein Fachzentrum, das knapp 200 Autisten begleitet und betreut. Sie erklärt: „Viele Kinder zeigen in ihrer Entwicklung Phasen zwanghafter Ordnungsliebe oder stereotypische Besonderheiten, wie man sie von Autisten kennt, beriechen, beklopfen oder belecken Dinge. Fast immer kann man Symptome erst rückwirkend und im Zusammenhang einordnen.“ So weiß man, führt sie aus, dass viele Autisten – wie Leon – als Baby nicht nach einer Person geschaut haben, die ins Zimmer kam, nicht die Arme nach ihr ausgestreckt haben und kein soziales Lächeln ab dem dritten Monat zeigten. Übergänge wie von der Milch auf Brei fallen schwer, Eltern werden nicht in Entdeckungen einbezogen, Handlungen massiv wiederholt. „Autismus ist per medizinischer Definition eine unheilbare, tiefgreifende Entwicklungsstörung. Also muss es erst eine Entwicklung geben, die sich beobachten lässt. Nur wenn sich Anzeichen summieren und zunehmend auffälliger werden, sollte man überhaupt an Autismus denken“, so Dr. Schubert.

Vererbung, Neurologie, Stoffwechsel: Autismus hat komplexe Ursachen

Kommt in der Verwandtschaft bereits Autismus vor, könnte das ein zusätzlicher Hinweis sein – oft gibt es mehrere Autisten in einer Familie. Entsprechend bilden die Erbanlagen einen Hauptfokus der Ursachenforschung. Bestimmte Gene beziehungsweise Genmutationen rufen offenbar Veränderungen in der Gehirnentwicklung beziehungsweise des Stoffwechsels hervor, welche als mögliche Auslöser autistischer Merkmale gelten. In der Regel wird ein unbekanntes (individuelles) Zusammenspiel mehrerer Faktoren angenommen. Bei Leon und Nils kam man hingegen auf eine außergewöhnliche Ursache: Eine Vergiftung durch ein Antiepileptikum mit Valporinsäure während der Schwangerschaft hat hier die Weichen gestellt.

Anspruchsvoll und aufwändig: Wer kann Autismus diagnostizieren?

Weil Autismus so vielseitig, obendrein selten (Angaben hierzu schwanken je nach Auslegung des Spektrums enorm; von 0,1 bis zu 1 Prozent aller Menschen, überwiegend Jungen, sollen dazugehören) und kindliche Entwicklung an sich sehr variationsreich ist, haben nur wenige Experten die Kompetenz, eine offiziell anerkannte Diagnose zu stellen. „Wer das macht, ist regional unterschiedlich. Weiß der Kinderarzt nicht Bescheid, kann man beim Bundesverband autismus Deutschland e.V. einen Ansprechpartner in der Nähe erfragen, sei es ein Kinderpsychiater oder eine Einrichtung wie unsere Autismus-Ambulanz“, rät Maria Schubert. „Auch stationäre Aufnahmen in kinderpsychiatrische Abteilungen in Kliniken sind möglich. Bei kleinen Kindern würde ich aber die ambulante Variante vorziehen.“
Eltern sollten sich auf einen langen Prozess einstellen: Auf einen Termin beim Spezialisten muss man oft Monate warten, dann schließt sich das mehrstufige Diagnoseverfahren mit Beratung, vielen Fragebögen, Interviews und Beobachtungen an – „und nach dem Ausfüllen sämtlicher Formulare haben wir noch mal acht Monate auf die Ergebnisse gewartet“, erzählt Jana.

Mehr Bewusstsein für die Besonderheiten

Der Lohn aller Mühen: Sie kann jetzt bewusster mit den besonderen Ansprüchen ihrer Kinder umgehen. „Durch die Diagnose haben sich die Kinder natürlich nicht verändert. Ich liebe sie noch wie zuvor. Aber mir ist es jetzt möglich, anders zu reagieren. Ich weiß, dass alle autistischen ‚Eigenheiten' ein Teil von ihnen sind, dass sie das weder steuern können noch absichtlich machen. Wenn mein Großer sich die Ohren zuhält, wenn ihm etwas zu viel wird, dann helfe ich ihm und versuche nicht, die Hände herunterzuziehen, weil andere komisch schauen könnten. Sie sind wie sie sind. Ich versuche sie zu fördern wo ich kann."

Steckt die Diagnose Kinder in eine überflüssige Schublade?

Ein konkreter Name für das, was an ihrem Kind auffällt, kann Eltern also große Erleichterung bringen. Für Colin Müller, Gründer des Netzwerkes „Autismus-Kultur“, birgt eine Diagnose aber auch den Nachteil, dass die Kinder damit in einer Schublade landen, die es seiner Ansicht nach nicht einmal geben sollte: „Autismus ist ein Label, das einer Gruppe von Menschen zugeschrieben wird, ohne dass es eine einzige Eigenschaft gäbe, die alle autistischen Menschen gemeinsam haben und die zugleich kein nicht-autistischer Mensch aufweist“, ist der Kulturwissenschaftler überzeugt. Autismus-Kultur setzt sich deshalb für eine positive Sichtweise ein: „Autismus ist keine Krankheit oder Störung, nichts, das man ‚hat’. Vielmehr ist es eine Art zu sein, eine Wesensart, untrennbar von der Persönlichkeit, vergleichbar mit Homosexualität, was ja früher auch als Krankheit galt.“ Eine Diagnose, befürchtet Müller, kann die Ablehnung, die Kinder gegen ihr unangepasstes Benehmen empfinden, noch verstärken, wenn Eltern dieses individuelle Anderssein nicht akzeptieren können und nun versuchen, mit Therapien auf Veränderungen des Verhaltens – und damit des Wesens – hinzuwirken. Oder gar auf eine (unmögliche) Heilung hoffen. Hilfreich sei eine Diagnose trotzdem dann, „wenn absehbar ist, dass es ohne nicht geht, weil man damit nötige Integrationsleistungen bekommt.“

Pflege, Betreuung, Therapien: Kind und Eltern stehen viele Hilfen zu

Dazu gehören je nach Symptomatik Unterstützungen wie Pflege- und Betreuungsleistungen, Schwerbehindertenausweis, Einzeleingliederung in der Kita, Nachteilsausgleich in der  Schule, Schulbegleiter, eine geschützte Berufsausbildung. Solche Erleichterungen darf man nicht unterschätzen, betont Maria Schubert: „Es ist keine Frage, dass die Kinder akzeptiert und angenommen werden müssen. Aber viele sind durch Behinderungen wirklich beeinträchtigt, tragen Leid und werden nicht selten depressiv. Damit dürfen sie nicht allein bleiben.“ Unter diesem Aspekt sind therapeutische Angebote wie Frühförderung, Verhaltenstherapien, Sprach- und Kommunikationstrainings als Hilfen gedacht, besser im Leben zurechtzukommen. Autismus-Zentren beraten dazu, welche Leistungen einem Kind konkret zustehen und wo (z.B. Sozial-/Versorgungsamt, Pflegekasse, Schule…) diese beantragt werden müssen. Ebenso erteilen die Landesverbände von Autismus e.V. solche Auskünfte für ihre jeweilige Region.

* Namen geändert.

Service

Literatur zum Einstieg:

• Fritz Poustka u.a.: Ratgeber Autistische Störungen. Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe. 2009. ISBN: 978-8017-2258-6. 8,95 Euro.

Im Netz:

• autismus Deutschland e.V. – Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus (hier findet man auch Links zu den regionalen Autismus-Ambulanzen bzw. –Zentren)
Link: www.autismus.de

• Autismus-Kultur – Netzwerk für eine positive Sichtweise auf Autismus
Link: www.autismus-kultur.de

• Aspies e.V. – Verband für Menschen im Autismusspektrum; Portal mit Selbsthilfeforum
Link: www.aspies.de