Alles anders als gedacht (sehr lang)

Ich habe diesen Text als eine Art Brief an meinen Sohn geschrieben, deshalb ist er so lang. Wenn er mal älter ist, werde ich ihn ihm vorlesen.

Montag der 8.8.2016 . 40+3

Deine Tante hat sich zum Frühstück angekündigt und ich freue mich schon sehr darauf. Endlich nochmal mit einer guten Freundin über meine Schwangerschaft plaudern und auch noch ein paar gute Tipps abholen – schließlich ist sie (bald) Hebamme.

Um 9 ist sie da und hat alle möglichen leckeren Sachen mitgebracht, ich muss nur noch Kaffee kochen. Wir quatschen ausgiebig und ausufernd. Gegen 13 Uhr entscheiden wir uns für ein Eis und sie schleicht geduldig mit mir zur Eisdiele. Ich watschle schon seit Wochen wie eine Ente, soll aber viel laufen, da du mit deinem Köpfchen immer noch sehr hoch in meinem Bauch liegst. Seit Tagen renne ich täglich durch die Weltgeschichte. Aber immer heißt es nur: der Junge muss noch tiefer runter.

Außerdem verbringe ich meine Tage mit Dampfbädern und Teetrinken. Viel Tee. Ekligen Tee. Was tu ich nicht alles für dich!? Am Sonntag waren wir sogar noch auf dem Barfußpfad in Bad Sobernheim. Ich bin für dich durch Schlamm gestapft, über fiese Kiesel gewatschelt und habe mir auf der Hängebrücke den kleinen Zeh verstaucht!

Ich muss auch noch für einen zusätzlichen (ekligen) Tee einkaufen. Also beenden wir das Eis essen so gegen 14 Uhr. Ab und zu ziept es mal im Bauch. Wir laufen wieder heim und deine Tante verabschiedet sich. Es ziept ein bisschen mehr. Ich fahre zum Edeka und kaufe für meinen neuen Wehentee ein: Eisenkraut, frischer Ingwer, Zimtstangen und ganze Nelken. Bäh!

Ich trinke eine Tasse und schmeiße meine Wehen-App an. Es ziept jetzt unregelmäßig so alle 3 bis 8 Minuten. Draußen in der Sonne sitzt es sich gut und ich habe ein gutes Buch in Hand, ab und zu ziept es halt mal. Manchmal atme ich auch ein bisschen mit. Scharf durch die Nase ein und langsam durch den Mund wieder aus. Dein Papa ruft nach seinem Feierabend an und fragt wie es so ausschaut. Ich sage: „Och, nix spektakuläres. Ich wehe ein bisschen. Das hört bestimmt wieder auf.“ Er fährt also auch noch einkaufen. Ich trinke eine zweite Tasse Wehentee und atme ein bisschen mehr mit. Aber eigentlich eher weil es mich entspannt, nicht weil es so wehtut.

Gegen 17 Uhr kommt dein Papa heim und fängt an im Garten zu brasseln. Er hat sich ein schönes Stück Fleisch gekauft und will es auf seinem Turbogrill zubereiten, muss dafür aber noch irgendwas vorbereiten. Ich bin jetzt bei ca. 3 Minuten Abstand und deute an, dass es vielleicht besser wäre, wenn er nur die Reste vom Zwiebelkuchen essen würde. Nachdem ich merke das ich ein klitzekleines bisschen zeichne, rufe ich meine Hebamme an. Ich soll etwas essen und die ganze Sache mal beobachten. Ich entscheide mich vorher für eine Dusche und wasche mir noch ausgiebig die Haare. Die Wehen werden etwas doller. Beim Haare föhnen habe ich die erste, und wie sich später rausstellt einzige, sehr schmerzhafte Wehe. Kurz habe ich schiss - dann tun die nächsten Wehen aber wieder kaum noch weh. Ich weiß gar nicht so recht wie ich das beschreiben soll… Natürlich tat es weh. Aber nicht so, dass ich nicht damit hätte umgehen können. Deshalb rechne ich auch nicht damit, dass sich am Muttermund schon viel tut.

Gegen 19 Uhr sitze ich mit Wehen alle 2 Minuten und einem wundervollen Camembertbrötchen (inkl. Feigensenf und belegt mit frischen Feigen) auf dem Sofa und habe gerade das zweite Mal reingebissen, als irgendwas komisch ist. Irgendwas macht was. In meinem Bauch! Mein erster Gedanke war (glaube ich) :“Verdammt! Gleich passiert irgendwas ekliges und dein Papa sitzt direkt daneben!“ Sicher ist sicher, wollte ich gerade um ein Handtuch bitten (dabei hab ich mich wohl irgendwie bewegt), da fängt es im Bauch an zu blubbern und schon läuft irgendwas aus mir raus. Ich kann es nicht verhindern. „Handtuch!“ Er springt auf und kommt mit einem Küchenhandtuch. Es läuft. Und läuft. Fruchtblase gesprungen. Ich gucke sehr, sehr doof und muss dann etwas lachen. Dann sehe ich, dass das Fruchtwasser nicht klar ist, sondern grün. Scheiße!

Während dein Papa weiter Handtücher bringt und ich weiter auslaufe, rufe ich wieder meine Hebamme an. Wir versuchen zu erörtern welche Farbe das Fruchtwasser hat, sind uns da aber nicht so einig. Ich soll mir ein paar Vorlagen in die Hose stecken und rumlaufen. Sie will wissen wie viel noch nachkommt und ob sich die Farbe ändert. Gesagt getan. Ich laufe weiter aus und trage eine Art Seniorenwindel. Irgendwie würdelos. Das Wohnzimmer sieht aus wie ein Schlachtfeld. Mehrere Handtücher und mein langes rotes Kleid liegen auf dem Boden. Ich laufe jetzt durch den ersten Stock und es läuft immer noch. Was da reinpasst! Dein Papa steht etwas hilflos daneben. Er sieht zwar ruhig aus, hat aber eiskalte Hände. Doch etwas nervös der Gute. Da ist ihm wohl der Kreislauf mal kurz abgesackt – jetzt, wo es ernst wird. Aber er bringt fleißig neue Handtücher, Vorlagen und Klamotten. Nachdem ich mich untenrum abgeduscht habe (Sinnlos - es läuft immer noch), schmeiße ich mich in frische Klamotten und rufe wieder die Hebamme an. Es ist immer noch grün. Jetzt sieht es auch oben aus wie nach einem Katastrophenfall. Ich soll mich jetzt doch mal hinlegen – sie kommt gucken.

Um etwa 20 Uhr ist sie da. Noch eine Praktikantin im Schlepptau. Die konnte sie in der Eile nirgendwo mehr absetzen. Aber ich kenne sie schon, das ist also ok. Sie schließt ganz kurz das CTG an: Herztöne bissl hoch. Dann tastet sie eine halbe Ewigkeit nach meinem Muttermund. Irgendwann kommt recht hektisch: „OK – wir fahren! Jetzt! Du bist bei 5 cm!“ Ich gucke wieder doof. Hätt ich nicht mit gerechnet – tut ja immer noch nicht wirklich weh.

Dein Papa legt also Handtücher auf den Sitz und lädt die Taschen ein, die Hebamme schnappt sich die übriggebliebenen Zutaten für den Wehentee und ich ziehe mich nochmal um. Auf der Autofahrt dreht sich das Gespräch eigentlich nur um „Wir sind ja so aufgeregt!“ und „Wie es wohl weitergeht?“ Wir hören die neue CD von Inextremo. Eine halbe Stunde später watschle ich recht gelassen ins Geburtshaus. Die zweite Hebamme ist auch schon da.

Ich werde auf einen Peziball gesetzt und komme ans CTG. Wehen etwa alle 2 Minuten. Dein Papa ist von der Arbeit und dem plötzlichen Stress ziemlich fertig und ich gestatte ihm huldvoll etwas zu dösen. Tut ja schließlich immer noch nicht richtig weh. Jedenfalls nicht so, wie ich mit Geburtswehen vorgestellt habe. Die Praktikantin wird zwischendurch heimgeschickt. Ich soll viel Wasser trinken und schmeiße den mp3-Player an und lenke mich mit Dikanda, Corvus Corax und Omnia ab. Die Herztöne liegen die vollen 45 Minuten bei etwa 170. Zu hoch. Zwischendurch verrät mir die Hebamme das sie es so eilig hatte, weil der Muttermund beim tasten von 3 auf 5 cm aufging. Sie hatte wohl ein bisschen Angst, dass du während der Autofahrt einfach rausfällst. Nach dem CTG wird wieder getastet. Das ist jetzt unangenehmer als die Wehen und ich muss dabei kräftig atmen. Dein Papa hält mir das Händchen. Resultat: 7 cm! Ich kann mein Glück kaum fassen und gucke wieder doof!

Allerdings wird mir eröffnet, dass die Sache mit den Herztönen nicht gut ist. Sie vermutet das die Wehen zu schnell kommen und du dadurch in Stress versetzt wirst. Gut wären 3 Minuten Abstand. Ich bekomme Globuli dagegen und soll jetzt mit deinem Papa auf der Terrasse meine Kreise ziehen. Außerdem etwas essen und trinken. Ich weiß nicht wie lange wir im Dunkeln über die Terrasse getigert sind… Gott sei Dank ist es recht warm. Wir drehen also Kreise und ich mümmle ein paar Müsliriegel weg. Bei jeder Wehe stütze ich mich auf die Lehne von einem der Gartenstühle die dort stehen. Dein Papa massiert mir dann während der Wehe das Kreuzbein. Nach jeder Wehe soll ich ein paar Schlucke trinken. Und so ziehen wir weiter unsere Kreise. Wir quatschen, ich bleibe stehen, veratme die Wehe und weiter geht’s. Plötzlich erleide ich (auch noch während einer Wehe) fast einen Herzinfarkt! Wie aus dem nichts poltert eine Katze aus der Dunkelheit auf die Terrasse! Sie ist auch erst total erschrocken und dann total angefressen, dass da jemand auf ihrer Terrasse unterwegs ist. Die nächste Zeit hört man sie dauernd irgendwo rascheln, auf Bäume klettern und über Vordächer hechten. Wir amüsieren uns über das Vieh und dein Papa trackt fleißig meine Wehen und massiert. Zwischendurch schlurfe ich immer mal wieder aufs Klo. Irgendwann kommt anscheinend wieder der Perfektionist in mir durch und ich bin bei 3 Minuten Abstand.

Die Hebamme fühlt nochmal, aber am Muttermund hat sich nix mehr getan. Während ich darauf warte, dass genug Wasser in der Wanne ist, soll ich an die Sprossenwand und immer abwechselnd einen Fuß erhöht aufstellen. Endlich darf ich in die Wanne. Darauf hatte ich mich gefreut! Also raus aus den Klamotten (und rein in ein Bikinioberteil) und ab in die warme Wanne. Dein Papa sitzt auf den Stufen, reicht Wasser und massiert mir das Händchen. Es ist echt gemütlich in der Wanne und ich kann gut entspannen. Die Wehen werden tatsächlich noch weniger. Ab und zu hört die Hebamme mit einem kleinen Mikro die Herztöne ab. Immer noch hoch. Dabei bin ich irgendwann tiefenentspannt. Ich habe keine Ahnung wie viel Zeit vergeht. Ich glaube, dein Papa döst auch etwas weg. Die Wehen sind weiter super zu veratmen.

Dienstag der 9.8.2016 . 40+4

Irgendwann muss ich aufs Klo und die Hebamme will die Chance zum erneuten CTG und tasten nutzen. Also raus aus der Wanne, Klo, und dann auf den Peziball. Herztöne immer noch fies hoch. Vorm tasten hab ich etwas schiss. Und tatsächlich – es tut ganz schön weh. Vor allem, weil beide Hebammen nach dem Muttermund fühlen wollen und dann auch von außen nach der Lage tasten. Sie sind sich einig darüber, dass die Herztöne viel zu hoch sind, und der Muttermund weiter bei 7 cm ist. Aber sie haben keine Ahnung mehr, wie du in meinem Bauch liegst. Du bist auf jeden Fall viel zu hoch. Sprich – dein Köpfchen übt keinen Druck auf den Muttermund auf und deshalb geht der nicht weiter auf. Die Sprache kommt auf das Thema „Abbruch“. Es wird ein Ultraschall empfohlen. Die Lage soll gecheckt werden. Das geht aber nur im Krankenhaus. Sie bringen mir vorsichtig bei, dass wenn sich nichts ändert, ein Kaiserschnitt im Raum steht. Die beiden wollen sich nochmal beraten und verlassen den Raum. Dafür das von Kaiserschnitt gesprochen wurde und ich nicht in die Klinik will, bin ich erstaunlich ruhig. Ich will nur, dass es dir gut geht. Dein Papa gesteht mir später das er schiss hatte - er weiß ja, das ich partout keinen Kaiserschnitt will. Die Hebammen kommen wieder und eröffnen uns den tatsächlichen Abbruch.

Scheiße. Aber wollen wir machen? Du sollst ja gesund zur Welt kommen. Wir packen also unseren Kram wieder ein und ich ziehe mich wieder an. Während ich das tue, erzählen die Hebammen deinem Papa von Ihrem Verdacht: du könntest zu groß und schwer für mein Becken sein. Sie schätzt dich auf 4,2 KG. Er sagt mir aber nix davon. Ich verabschiede mich von der zweiten Hebamme und meine Beleghebamme fährt schon vor in die Klinik.

Da sitze ich also mit nassen Haaren im Auto und wir fahren gegen 3 Uhr in die Klinik. Wir besprechen was ich will und was ich nicht will. Ich habe nämlich schiss davor das alles in z. B. einer Saugglockengeburt mit Dammschnitt und Kristellergriff endet. Ich will einfach nicht dass das so läuft. Ich will eine selbstbestimmte Geburt. Und wenn das bedeutet, dass ich selbst bestimme das es jetzt einen Kaiserschnitt gibt. Ich möchte nicht in Rückenlage und mit Powerpressen enden. Deshalb wollte ich ja ins Geburtshaus! Unterwegs werden die Wehen ein bisschen knackiger. Das letzte Mal gucke ich um 3.15 Uhr auf die Uhr. Dann sind wir da. Wir parken kurz in der Einfahrt für die Liegendanfahrt und nachdem wir zum Kreissaal gewatschelt sind und meine Hebamme mich in Empfang genommen hat, geht dein Papa umparken.

Ich soll direkt aufs runde Kreissaalbett und komme direkt wieder ans CTG. Der Dr. den ich gerade bei 40+0 bei der Vorsorge kennengelernt habe, kommt um den Ultraschall zu machen. Er wird über den bisherigen Ablauf aufgeklärt und fragt erst mal „Hat sie überhaupt Wehen?“ weil ich da so (äußerlich) entspannt liege. Dann guckt er aufs CTG. Es gefällt ihm gar nicht. Dein Papa kommt jetzt wieder dazu. Der Arzt möchte nach dem Muttermund tasten und sagt dann knallhart: 2 bis 3 cm. Meine Hebamme gesteht mir später das er das nicht gut kann und sich dauernd verschätzt. Aber sie tastet direkt auch nochmal (AUA!) und er hat zumindest damit recht das der Muttermund ein bisschen weiter zu gegangen ist. Wahrscheinlich der Stress durch den Abbruch. Du liegst immer noch wahnsinnig hoch. Der Arzt erklärt uns, dass da ein Ultraschall jetzt auch nichts mehr bringt, es muss einen Kaiserschnitt geben. Jetzt. Die Herztöne sind schon viel zu lange zu hoch. Ich sage ihm, dass ich unbedingt eine Vollnarkose vermeiden möchte. Gott sei Dank stimmt er zu. Aber die Vorbereitungen müssen schnell gehen. Ich kann nicht sagen wie es deinem Papa dabei ging, aber ich habe ab diesem Zeitpunkt aufgehört über irgendwas nachzudenken. Es ist einfach alles passiert. Zack, Braunüle. Zack, Flügelhemdchen an. Zack, ab auf ein Rollbett. Ich werde liegend durch die Gänge gefahren und beim an die Decke gucken wird mir ein bisschen schlecht, also mache ich die Augen zu. Jemand sagt mir das dein Papa nach der PDA nachkommt. In einer Art Schleuse soll ich auf ein ziemlich hohes anderes Bett klettern. Der Narkosearzt kommt und erklärt mir die Risiken und Nebenwirkungen. Dann geht die Tür zum OP auf.

Ziemlich ungemütlich so ein OP. Ziemlich viele Leute. Aber sie machen Smalltalk mit mir. Das ist gut. Ich zittere ein bisschen mit den Beinen. Zwischendurch soll ich irgendwas unterschreiben. Es ist mir egal was drauf steht. Dann werde ich in die richtige Haltung für die PDA gesetzt. Hände auf den Bauch, Rücken ganz rund und Kinn fest auf die Brust. Einer der Narkoseärzte drückt mir sogar etwas den Kopf runter, der andere setzt die Betäubung. Jetzt nicht bewegen! Es sticht ganz schön. Vor allem weil er irgendwie noch drauf rumdrückt. Zwischendurch habe ich auch noch eine Wehe. Wenn ich das richtig mitbekomme wird auch noch eine zweite Betäubung gesetzt. Ich hatte damit gerechnet, das nochmal Bescheid gesagt wird, bevor die große Nadel gesetzt wird. Und als es heißt „Werden Ihre Beine jetzt warm?“ denke ich, das kommt von der normalen Betäubung. Es wird aber zuerst nix warm. Ich habe einen fiesen Druckschmerz in der linken Hüfte. Ein bisschen wie Ischias. Gepresst teile ich das mit und der Arzt macht irgendwas. Nochmal dieser fiese Schmerz. Dann wird’s tatsächlich warm. Auf einmal darf ich mich hinlegen und frage ganz ungläubig ob die PDA schon liegt. Sie liegt. Jetzt kommen meine Beine in so Halterungen. Sie sind ziemlich hoch und das Ganze ist etwas unwürdig. Am linken Arm habe ich eine Infusion und der rechte ist ausgesteckt, hochgelagert und festgeschnallt, daran ist die Herzüberwachung festgemacht. Jetzt wird ein Tuch zwischen mich und meinen Bauch gespannt und der Arzt reibt praktisch alles zwischen Rippen und Knien mit Jod ein. Ich kann immer noch an nix denken und frage aber ob sie vorher testen das auch alles taub ist und ob dein Papa bald kommt. Der Narkosearzt beruhigt mich. Ich frage ob meine Hebamme da ist und sie meldet sich von hinter dem Vorhang. Das beruhigt mich zusätzlich. Sie haben es allerdings recht eilig und nachdem sie sich versichert haben das tatsächlich alles taub ist, fängt der

Arzt schon an zu schneiden und ist gerade dabei den Schnitt durch reißen zu erweitern als drin Papa endlich in den OP gelassen wird. Ich drehe also den Kopf ganz weit nach hinten und sehe ihn endlich kommen, während ich merke wie das Gewebe reißt. Er sitzt jetzt links neben meinem Kopf. Es tut wirklich nicht weh. Aber es ist sehr, sehr unangenehm. Der Körper ist da irgendwie verwirrt glaube ich. Berührungen und Druck spürt man schließlich weiterhin. Ich muss ein paar Mal keuchen und stöhnen. Und hektisch atmen. Dein Papa sagt später das der Narkosearzt irgendwas an meinem Blutdruck stabilisiert hat. Es ruckelt und drückt und zieht. Und plötzlich hört man hinter dem Vorhang:“1,2,3,4,5!“ …Stille… Ich bin total verwirrt und frage:“ Fünf was?“ Die Antwort lautet:“Fünf Mal Nabelschnur um den Hals!“ Ich schlucke und frage mit etwas brüchiger Stimme ob es dir gut geht. Ich kann nur auf den Vorhang starren und mir vorstellen was dahinter ist. Ich kann eigentlich an gar nichts mehr denken. Jedenfalls erinnere ich mich nicht. Meine Hebamme bringt dich direkt weg. Du schreist nicht. Ich sehe weder sie, noch etwas von dir. Hinter dem Tuch wird irgendwas abgesaugt und weiter gemacht als wäre nichts gewesen.

Ich habe Angst. Ich atme wieder hektisch und zittere. Für die nächsten Minuten bin ich deinem Papa unendlich dankbar. Denn er lenkt mich (und wahrscheinlich auch sich selbst) unglaublich süß ab. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr genau was er mir alles ins Ohr geflüstert hat, aber es hat sehr geholfen! Strand, grüne Wiesen, Sonnenschein… Ich weiß es wirklich nicht mehr genau.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, dann geht irgendwann die Schleuse wieder auf und meine Hebamme kommt mit einem Bündel Handtuch auf uns zu. Ich liege ja noch, und drehe meinen Kopf ganz weit über links nach hinten. Das erste was ich sehe ist ein blaues, schrumpeliges, unglaublich kleines Händchen. Dann dreht sie das Bündel und ich kann auch dein Gesichtchen sehen. Ich muss sofort heulen und frage wieder ob es dir gut geht und ob du wirklich ein „er“ bist. Sie sagt ja. Ich schniefe und habe nur noch Augen für dein Gesichtchen. Ich glaube ich sage: „Hallo Leo.“ Dann heule ich weiter. (Während ich das hier tippe, muss ich schon wieder heulen.) Sie sagt, dass du sehr kalt bist und das du wieder zum Kinderarzt musst. Ich soll dir ein Küsschen geben, sie müsse dich wieder mitnehmen. Also hauche ich dir ein Küsschen auf die Stirn und sage deinem Papa das er jetzt mit dir mitgehen soll. Papa soll schließlich auf dich aufpassen. Damit dir nichts passiert. Damit dir nie etwas passiert.

Dann liege ich also alleine da und es ruckelt und drückt noch immer. Ich atme noch hektischer und zittere jetzt ganz doll. Der Narkosearzt versucht mich zu beruhigen. Ich kann schon wieder an nichts denken. Vielleicht bin ich ein wenig im Schock. Ich weiß es nicht. Aber ich mache mir Sorgen um dich! Das nähen dauert gefühlt ewig. Irgendwann heben sie meine Füße aus den Halterungen und ziehen mir ein Netzhöschen an. Ich werde irgendwohin gefahren und mithilfe von irgendeiner komischen Apparatur in ein normales Krankenhausbett umgelagert. Dann geht’s in den Aufwachraum und an neue Monitore. Es ist kurz nach 5 Uhr. Ich kann genau auf eine Uhr gucken. Das ist sehr frustrierend. Einer der Narkoseärzte muss immer auf mich aufpassen und zwischendurch geht auch mal der Alarm los, weil mein Kreislauf zu niedrig rutscht. Ab und zu wird getestet wie weit die Medikamente der PDA schon abgebaut sind. Die Betäubung wandert langsam tiefer. Mir fällt jetzt erst auf, das ich die Beine gar nicht bewegen kann. Gegen halb 6 kann ich ein ganz bisschen mit den Knien wackeln. Meine Zehen sind aber noch komplett unbeweglich. Ich werde langsam unruhig. Ich weiß nicht wann ich dich endlich wiedersehen darf und keiner kann es mir sagen. Das tut weh im Herzen. Ich will dich endlich im Arm halten. Hoffentlich darf dein Papa bei dir sein. Ich starre auf die Uhr.

Um 6 Uhr geht endlich die Tür auf. Mein Herz klopft ganz doll. Dein Papa und die Hebamme schieben ein Babybettchen aus Plexiglas herein und dein Papa guckt ganz stolz. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Die Hebamme erklärt das sie dich leider schon anziehen mussten weil du so kalt warst. Dein Papa erzählt später wie du dir im Wärmebettchen immer wieder das Mützchen vom Kopf gezogen hast und er es dir immer wieder aufgesetzt hat. Ins Wärmebettchen musstest du aber auch nur, weil im OP ein Wert falsch durchgeben wurde und man dachte, es ginge dir noch schlechter als ohnehin schon. Das klärte sich dann aber nach einer halben Stunde. Trotzdem hattest du einen schweren Start! Beim herausheben haben sich zwei Schlingen der Nabelschnur noch fester zugezogen und meine Hebamme erzählte uns später, das du praktisch nur einen Herzschlag hattest als sie dich aus dem OP trug. Du wurdest abgesaugt und sogar beatmet. Ganz kalt warst du. Kurz stand eine Verlegung im Raum. Das wäre für mich die Hölle gewesen – jetzt auch noch von dir getrennt zu werden. Für Stunden. Aber sie war dagegen und kurz danach ging es dir auch besser. Nochmal Glück im Unglück gehabt!

Sie zieht dich jetzt nackig aus und stopft dich unter meine Bettdecke. Es ist ein wundervoller Moment! Da liegen wir – Bauch an Bauch. Dein Köpfchen auf meiner Brust. Ich lege meine Hände als erstes über deinen Rücken und bin ganz erstaunt wie pfirsichzart er ist. Du bist so klein. So weich. So perfekt. Dein Köpfchen ist sogar noch streichelzarter. Es ist noch etwas Blut daran. Aber das macht nichts. Du atmest ganz leise und quakst nur ein bisschen. Wie ein kleines Kätzchen. Während du auf mir liegst, muss ich mich dauernd vergewissern das du noch atmest. Ich habe solche Angst, dass du es vielleicht nicht mehr tust. Aber du schnuffelst ganz zuverlässig. Ich muss mich trotzdem dauernd neu überzeugen. Ich könnte ewig so mit dir liegen.

Dein Papa ist losgezogen unsere Taschen holen und irgendwann werden wir beide dann samt Bett in unser Zimmer gefahren. Er hat sich darum gekümmert das wir ein Familienzimmer bekommen. Ein 3-Bett-Zimmer ohne deinen Papa wäre jetzt der totale Horror. Aber es hat geklappt und wir werden die nächsten 5 Tage nur zu dritt verbringen. Wir dürfen noch einige Zeit so liegen. Dein Papa liegt auf dem Bett daneben. Dann kommt meine Hebamme und hilft mir dich anzulegen. Du bist allerdings sehr klein und dein Mündchen ist so winzig. Wir versuchen es mit einem Stillhütchen und dann funktioniert es einigermaßen. Du nuckelst fleißig aber angestrengt. Die Milchbar ist etwas groß für dich und du bekommst beim saugen nicht richtig Luft. Wir müssen immer aufpassen, dass du frei schnuffeln kannst. Du kannst aber auch schon ganz super dein Köpfchen heben – wir sind ganz fasziniert. Meine Hebamme ist todmüde und will sich gerne verabschieden um den Papierkram zu machen. Da fällt mir auf, dass ich noch gar nicht nach deinen Maßen gefragt habe. Ich wollte mich ja überraschen lassen. Aber deine Tante meinte schon immer: „Breiter Rücken, kräftige Oberschenkel!“ Der Arzt hatte mir 4 Tage vorher schon gesagt:“ Sie wissen schon, dass das kein Minikind wird?!“ Und im Geburtshaus hatte man dich ja auf 4.200 Gramm geschätzt.

Dann die Überraschung:

Leo - 2.960 Gramm verteilt auf 50 cm und mit 36 cm Kopfumfang. Geboren am 9.8.2016 um 4.14 Uhr.

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Erstmal herzlichen Glückwunsch zu eurem Leo, schön, dass ihr alles überstanden habt und jetzt die ersten Tage gemeinsam verbringen könnt :-)

Der geburtsbericht (oder besser -brief ) ist zum verschlingen. Habe am ende nochmal hochgescrollt und war überrascht wieviel Text. Hat sich jedenfalls gelohnt. Dein Sohn wird sicherlich irgendwann Freude daran haben, und stolz sein, dass Mama sich so viel Mühe gegeben hat. Ich wünsche euch alles erdenklich gute und eine wunderbare Zeit mit eurem Sohn!

Andika mit Zwillis (29. Ssw)

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Lieben Dank für deine Glückwünsche! :)
Und es freut mich das dir der Bericht/Brief gefällt.

Müde Grüße,

Die Rheinhessin

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Ganz, ganz toll geschrieben. #pro Musste sogar das eine oder andere Tränchen verdrücken. Da wird dein Sohn sich später bestimmt freuen. Toll, dass du dich trotz der ganzen Aufregung noch so gut erinnern konntest!

Alles Gute und eine schöne Kuschelzeit!

LG

Ziege mit Kilian im Bauch, 35+2 SSW #verliebt

P.s. Guter Musikgeschmack! #cool

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Dankeschön! <3

Die Ereignisse haben sich irgendwie eingebrannt, es war alles unglaublich intensiv. Daher ging das schreiben ganz gut.

Du hast ja auch nicht mehr lang - ich wünsch dir alles Liebe!

PS. : ich hoffe das wir das Kind mit unserem Musikgeschmack anstecken können! Der ursprüngliche ET war der 5.8. - also Wacken-Freitag - den haben wir ja knapp verpasst... ;)

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So schön. Ich musste auch weinen. Super Idee es als Brief zu schreiben

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Ich weiß nicht ob das gut ist oder schlecht, dass ihr alle ein Tränchen über meinen Bericht verdrückt. ;)

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Wow was für ein schöner Geburtsbericht

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Danke für diesen tollen und ausführlichen Bericht - ich bin richtig in deiner Geschichte versunken <3
Auch wenn du es dir anders gewünscht hattest - dir und deiner Familie geht's gut und das ist die Hauptsache! Ich hoffe, ich kann hinterher auch einen so herzigen Brief schreiben - hab ja noch lange vor mir :-)

Liebe Grüße, Steffi.Steffi 13+5