Unterschiedliche Erziehungsstile

Erziehung: Müssen sich Eltern einig sein?

Oft lässt sich der eine Elternteil vom Nachwuchs leichter um den Finger wickeln, während der andere sich vielleicht mehr Klarheit und Konsequenz bei der Erziehung wünscht. Schaden unterschiedliche Erziehungsstile dem Kind?

Autor: Gabriele Möller

Einigkeit ist Eltern wichtig

Erziehung einig sein
Foto: © Colourbox

„Jetzt hast du dich schon wieder von ihm weichklopfen lassen“, wirft Eckehard Weber* seiner Frau Sylvia vor. Der gemeinsame sechsjährige Sohn sollte an diesem Abend eigentlich nicht mehr fernsehen, weil er wegen des schlechten Wetters nachmittags schon eine Extraschicht vor der Glotze hatte verbringen dürfen. Doch weil seine Lieblingssendung Wickie lief, hatte Sylvia seinem Klagen nachgegeben.

Dass Eltern sich bei der Erziehung immer einig sind, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit. Schließlich haben Mutter und Vater unterschiedliche Temperamente, unterschiedliche Kindheitserfahrungen, unterschiedliche Vorstellungen über das Leben im Allgemeinen und die richtige Kindererziehung im Besonderen. Dass der eine vielleicht nachgiebiger ist, der andere strenger oder konsequenter, ist da beinahe unvermeidlich.

Ist es überhaupt erstrebenswert, dass Eltern eine Art pädagogischer Einheitspartei bilden? Die meisten Eltern wünschen sich das zumindest. Das ergab auch eine Studie der Universität Wien (2008), die sich mit der Rolle des Vaters in der Erziehung befasst: „Einigkeit und Geschlossenheit im Elternsystem gegenüber dem Kindersystem spielen für einen Großteil der Interviewten eine wichtige Rolle in den Erziehungsvorstellungen. Sie stellen die Basis für die elterliche Erziehung dar, die dazu beitragen soll, eine erzieherisch günstige Situation herzustellen“, fasst  Dipl.-Sozialpädagoge Dr. Kim-Patrick Sabla die Aussagen zusammen. Unterschiedliche Vorstellungen zur richtigen Erziehung gehören denn auch zu den häufigsten Gründen für Konflikte zwischen Eltern.

Eltern als geschlossene Wand – wirklich das Beste fürs Kind?

Dass Väter und Mütter es wichtig finden, bei der Erziehung übereinzustimmen, ist verständlich. Denn Einigkeit - das klingt nach Harmonie, nach klaren Signalen ans Kind, nach Orientierung. Außerdem möchten Eltern ja nicht, dass ihr Kind sie gegeneinander ausspielt. Doch wenn Eltern glauben, sich schon aus Prinzip immer einig sein zu müssen, kann dies auch nach hinten losgehen. „Dann erlebt ein Kind die Eltern unter Umständen wie eine Wand, an der es ständig abprallt. Und es erlebt nicht, wie Mutter oder Vater auch mal an seiner Seite stehen“, warnt Ines Kolbe, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Hannover. Außerdem muss sich dabei ein Elternteil oft zugunsten der scheinbaren Einigkeit verstellen, was Kinder mit ihren feinen Antennen spüren, und was sie verunsichert.

Mutter und Vater sind außerdem zwei Individuen, die sich naturgemäß in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Dies darf ein Kind ruhig sehen. Eltern möchten schließlich, dass auch ihr Nachwuchs als Erwachsener später in der Partnerschaft seinen eigenen Kopf behält, eigene Interessen fortführt und sich behauptet – er soll weder mit dem späteren Partner verschmelzen, noch neben ihm zur Unsichtbarkeit verblassen. Schon Kinder dürfen also erleben, dass die Mutter im Alltag andere Dinge wichtig und richtig findet als der Vater.

Uneinigkeit kann Erziehungsfehler mildern

Unterschiedliche Erziehungsstile helfen aber auch, eventuelle elterliche Fehler auszugleichen. Denn „wenn Eltern immer alles gleich machen würden, könnten Fehler nie korrigiert werden“, erklärt Gerhard Suess, Professor für klinische und Entwicklungspsychologie in Hamburg. Es gibt dann zu ungünstigen Reaktionen eines Elternteils kein Gegengewicht. Suess findet es daher am besten, wenn Eltern zwar eine gemeinsame, aber nicht unbedingt eine einheitliche Linie verfolgen.

Zuständigkeiten festlegen hilft bei Uneinigkeit

Gemeinsam, aber nicht einheitlich – wie kann das im Alltag aussehen? Hierbei spielen Absprachen zwischen den Eltern eine entscheidende Rolle. Sie können zum Beispiel so aussehen:

  • Wer im Thema fit ist, hat das Sagen

    Das letzte Wort zu einer Frage hat derjenige Elternteil, in dessen Zuständigkeitsbereich das Thema fällt. Ist die Mutter morgens dafür verantwortlich, dass das Kind rechtzeitig aufsteht und startklar für den Kindergarten ist, entscheidet sie auch über die abendliche Zubettgehzeit. Denn ist ein Kind unausgeschlafen, muss die Mutter dies morgens ausbaden.

  • Wem die Sache am Herzen liegt, der entscheidet

    Wem ein Thema besonders am Herzen liegt, der darf entscheiden. Legt der Vater etwa besonderen Wert auf gute Tischsitten oder Höflichkeit, darf er das Kind dazu ermahnen, ohne dass ihm die Mutter in den Rücken fällt und sagt: „Lass sie doch, sie ist noch klein und außerdem ist das doch nicht so wichtig“.
  • Expertenwissen hat das letzte Wort

    Ebenso sollte  „Expertenwissen“ bei Entscheidungen den Vorrang bekommen: Ist der Vater ein Sport-Ass, plant er den Wochenendausflug zum Bundesliga-Turnier und legt auch die Modalitäten fest. Ist die Mutter gut über Kinderkrankheiten oder Impfungen informiert, entscheidet sie, wann zum Arzt gegangen wird, oder ob und wogegen geimpft wird.
  • Bei verhärteten Fronten hilft ein Experiment

    Sind die Ansichten sehr gegensätzlich und keiner möchte gern nachgeben, können Eltern abwechselnd ihre Linie ausprobieren. Ist zum Beispiel die Mutter dafür, dass ihr Grundschulkind bei den Hausaufgaben begleitet und kontrolliert wird, während der Vater mehr der Eigenständigkeit des Kindes vertraut, hilft ein Kompromiss: Vier Wochen lang hält sich die Befürworterin elterlicher Kontrolle zurück (ohne zu unken und schlechte Noten vorherzusagen). Das Kind bekommt, natürlich nach entsprechender Vorankündigung, mehr Verantwortung. Dann wird geschaut, wie es zurechtkommt. Klappt es nicht so gut, darf wieder (eine Weile lang) derjenige Partner die Regie übernehmen, der für mehr Elternunterstützung plädierte. "In so einem zeitlich begrenzten Experiment kann man herausfinden, welche Überzeugung für das Familienleben sinnvoller ist", erklärt Hans Berwanger, Diplom-Psychologe und Familientherapeut aus Coburg.
  • Mama darf es so machen, Papa anders

    In weniger wichtigen Alltagsbereichen können Eltern auch ganz auf die Feststellung verzichten, welcher Weg der bessere ist, sondern den „fliegenden Wechsel“ beibehalten: Eine Woche lang badet der Vater das Kind, putzt ihm die Zähne oder bringt es ins Bett, in der nächsten Woche die Mutter usw. Jeder von beiden kann das Ritual auf seine Weise umsetzen. Dieser Wechsel hat noch einen Vorteil: Es werden auch Väter eingebunden, die tagsüber wenig Zeit für ihre Kinder haben und dies durch übertriebene Nachgiebigkeit und Großzügigkeit ausgleichen möchten. Denn durch das Übernehmen schlichter Alltagsaufgaben kommen sie aus ihrer Rolle des „Wochenend-Bespaßers“ heraus, der kaum Erziehungsverantwortung hat. Durch den Einsatz im Alltag geerdet, darf der Vater dann auch die beliebteren Papa-Rituale genießen, wie wildes Herumtoben mit dem Kind, sich beim Bolzen mit dem Nachwuchs im Garten richtig schmutzig zu machen oder auch mal einen Formel 1-Nachmittag auf dem Sofa einzulegen, ohne dass die Mutter ihr Veto einlegt.
  • Sorge geht vor Freizügigkeit

    Die Ängste eines Elternteils sollten vom jeweils anderen respektiert werden. Ist der Vater dafür, das frisch gebackene I-Dötzchen schon allein zur Schule gehen zu lassen, hat die Mutter aber schon bei dem Gedanken an die viel befahrene Hauptstraße schlaflose Nächte, geht ihre Sorge vor. Selbst wenn der Vater dann morgens den Chauffeur spielen muss, sollte er diese Aufgabe  zugunsten des Seelenfriedens seiner Partnerin möglichst klaglos übernehmen. Im nächsten Schul- oder Halbjahr kann die Schulwegfrage dann aufs Neue besprochen werden.

Absprachen geben Kontinuität trotz der Unterschiede

Haben Eltern zu einem Thema unterschiedliche Vorstellungen, hilft es also nur, sich abzustimmen und miteinander  im Gespräch zu bleiben. Doch was so selbstverständlich klingt, ist keineswegs Alltag: Nur 57,6 Prozent der Mütter und Väter besprechen  Unsicherheiten bei Erziehungsfragen überhaupt mit ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin, wie das Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg bei einer Elternbefragung im Jahr 2002 herausfand. Wenn Eltern sich jedoch nicht absprechen, sind Konflikte vorprogrammiert. „Mein Mann ist ein Star Wars-Fan. Jetzt hat er unserem Sohn Nils so ein Laserschwert für über 100 EUR bestellt. Dabei hatte ich Nils zuvor gesagt, dass er sich dieses teure Spielzeug allenfalls zu Weihnachten wünschen darf. Er ist dann einfach zu meinem Mann gegangen, und die beiden haben die Bestellung zusammen im Internet aufgegeben“, erzählt Anneliese Behring* aus Unna. „Ich bin total sauer, aber mein Mann versteht gar nicht, warum.“

„Wenn Kinder ihre Wünsche durchzusetzen versuchen, indem sie zur nachgiebigeren Mutter / dem Vater gehen, um sich dort die Erlaubnis für irgendetwas zu erjammern, helfen am besten Einigkeit der Eltern und die Antwort: ‚Ich werde mit Papa (oder Mama) darüber sprechen, du bekommst Bescheid.‘ Das erspart Ärger, und die Festlegung von Grenzen fällt leichter“, rät der Kinderpsychologe Ingo Würtl,  Lehrbeauftragter der Universität Hamburg, für solche Fälle.

Unterschiedlich bei der Kür – einig bei der Pflicht

Auch wenn Eltern also Unterschiede bei der Erziehung leben, dürfen sie sich nicht in den Rücken fallen. Sie sollten sich außerdem zumindest über die grobe Richtung verständigen, in die ihre Erziehung gehen soll. „Wenn Eltern sich hier im Großen und Ganzen einig sind, ist dies eine eindeutige und sichere Wegweisung für das Kind“, betont auch Kindertherapeutin Ines Kolbe. Dies betrifft zum Beispiel die Werte, die Eltern in die Seele ihres Kindes pflanzen möchten. Es verunsichert ein Kind, wenn der Vater für Faustrecht und Ellbogen plädiert, die Mutter aber zur Friedfertigkeit ermahnt. Oder wenn der Mutter gute Tischsitten wichtig sind, der Vater es aber lustig findet, bei den Mahlzeiten zu rülpsen und auch den Nachwuchs dazu ermuntert. Schwierig ist es auch, wenn der Vater eine konsumkritische Haltung hat, die Mutter aber jedem Kaufwunsch des Kindes nachgibt – oder umgekehrt. Wo Elternansichten sich so widersprechen, geht es nicht ohne Kompromisse und das Gespräch. Für Kinder ist es dabei durchaus eine gute Erfahrung, wenn sie erleben, dass die Eltern miteinander diskutieren und eine Lösung finden.

Nicht optimal ist es dagegen, wenn Eltern ständig vor dem Kind über Erziehung streiten und jeder die Auseinandersetzung „gewinnen“ will. Dies kann beim Kind Schuldgefühle auslösen, weil es sich als Ursache für den Streit erlebt. „Eltern sollten aufmerksam werden, wenn sie den Ausgang von Konflikten - nicht nur bei Erziehungsfragen - als Gewinn oder Verlust abbuchen. Dann könnte die Diskussion um angemessene Tischmanieren eines Vierjährigen ein Machtkampf sein mit dem Ziel, dem anderen sein Unvermögen vor Augen zu führen und für sich selbst das ‚Richtige‘ zu beanspruchen“, erklärt Kindertherapeutin Kolbe in einem Interview.

Das Kind nicht zum Komplizen machen

Neben der fehlenden oder ungesunden Gesprächskultur lauert noch ein weiterer Stolperstein auf Eltern: Wenn sie ihre unterschiedlichen Erziehungsstile missbrauchen, um sich beim Kind beliebt zu machen. Dies passiert leicht bei unterschwelligen Konflikten zwischen den Eltern und bei Trennungen. Eltern sollten der Versuchung widerstehen, ihr Kind zum Komplizen zu machen: „Ich weiß, dein Vater/deine Mutter will das eigentlich nicht. Aber du musst es ihm/ihr ja nicht erzählen“. So bringt man sein Kind in einen schlimmen Konflikt: sich zwischen der Loyalität zur Mutter oder zum Vater entscheiden zu müssen, um zugleich das andere Elternteil zu verraten. Wenn Eltern sich bei solchen Manövern ertappen, oder sich immer wieder über die Erziehung streiten, ohne Lösungen zu finden, hilft eine Paar-Beratung, unterschwellige Konfliktherde aufzudecken.

Jedes Kind ist in mehreren Welten zu Hause

Wenn Eltern es schaffen, von einer gemeinsamen Basis aus ihre unterschiedlichen Erziehungsstile zu pflegen, erfährt ein Kind: Das Elternhaus ist kein in sich geschlossener Kosmos, dessen Gesetzmäßigkeiten allgemeingültig wären, sondern es gibt Vielfalt - und trotzdem auch Stabilität. Dies gilt natürlich auch für Bereiche außerhalb von zu Hause: Was daheim feste Regel ist, wie vielleicht pünktliche Mahlzeiten, kann schon bei den Großeltern oder bei Tante und Onkel bedeutungslos sein. Und was bei den Großeltern als selbstverständlich gilt, wie vielleicht, dass die Oma hinter dem Kind herräumt und sauber macht, wird im Kindergarten wiederum ganz anders gehandhabt.

Kinder leben also in verschiedenen Welten: der des Elternhauses, der Tagesmutter, des Kindergartens, des Turnvereins und in noch vielen anderen mehr. Und weil Kinder lernbereit und flexibel sind, ist es nach Beobachtung von Entwicklungsforschern für sie überhaupt kein Problem, sich in all diesen Welten zurechtzufinden und sich an deren unterschiedliche Regeln anzupassen. Sie profitieren sogar davon. Denn auch später als Erwachsene müssen sie sich darauf einstellen, dass am Arbeitsplatz andere ungeschriebene Gesetze gelten als zu Hause, und in der Partnerschaft wiederum andere als unter Freunden und Bekannten oder im Sportverein.

*Namen geändert