Verlängerung für das Familienleben

Nachzügler: die besonderen Nesthäkchen

Mit einem Abstand von fünf Jahren zum nächst älteren Geschwister gilt das jüngste Kind schon als Nachzügler. Welche Vor- und Nachteile haben solche Kinder? Wie verstehen sie sich mit den Geschwistern? Und wie sieht der Familienalltag aus?

Autor: Kathrin Wittwer

Mal Wunsch, mal Schicksal: Nachzügler

Familie Nachzügler
Foto: © iStockphoto.com/ JackF

Als Antjes* Sohn Felix* auf die Welt kam, war ihre Tochter Lena* bereits 14 Jahre alt. „Ich war lange mit Lena allein gewesen, die Beziehung zu ihrem Vater zerbrach schon ein Jahr nach ihrer Geburt“, berichtet Antje. „Als ich meinen jetzigen Partner kennenlernte, waren Kinder eigentlich kein Thema. Aber mit den Jahren hat sich der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind dann doch bemerkbar gemacht.“ Eine neue Partnerschaft ist ein typisches Szenario, warum Eltern sich, obwohl schon ein gutes Stück des Erziehungsweges hinter sich oder gar das Ziel eines kinderfreien Haushalts im Blick, noch mal für Nachwuchs entscheiden. Auch ein aufflammender Kinderwunsch in Torschlusspanik vor den Wechseljahren ist kein Ausnahmeanlass für ein Nesthäkchen. Allerdings, so der Entwicklungspsychologe, Frühpädagoge und Familienforscher Prof. Dr. Dr. Hartmut Kasten, „auch wenn es dazu keine harten Daten gibt, sind Nachzügler seltener Wunschkinder, sie ereignen sich mehr schicksalhaft.“ Nicht geplant heißt aber nicht ungewollt: „Meist werden die Kinder im Laufe der Schwangerschaft angenommen.“ Und mit Freuden empfangen.

Viel Liebe, aber nicht alles immer nur entspannt

Viele Mütter schwärmen dann regelrecht vom Leben mit Nachzügler: „Es ist das Schönste überhaupt“, sagt Petra, 40, über ihr drittes Kind, acht und elf Jahre jünger als die Geschwister. „Wir haben es alle total genossen, es ist wie ein erstes Kind. Im Umgang ist man aber viel sicherer, da man es ja schon kennt. Man bekommt nicht gleich bei jedem Pups Panik“. Ähnlich glücklich hat Alexandra, 46, diese Zeit erlebt: „Nichts ist schöner und friedlicher als die ersten Jahre mit dem dritten Baby, wenn die zwei anderen schon ziemlich groß sind.“ Antje dagegen hat durchwachsene Erfahrungen gemacht: „Ich hätte einiges für ein Baby in Kauf genommen und habe mir die Elternzeit sehr entspannt und toll ausgemalt – WIE anstrengend es aber dann doch ist, war mir nicht (mehr) bewusst. Man verdrängt vieles und der Anspruch wächst, je älter man wird.“ Das kann Prof. Kasten bestätigen: „Gerade bei diesem Kind versuchen Eltern, Fehler auszusteuern, die sie selbst erlebt haben. Die meisten machen es aber aus dem Bauch heraus richtig.“ Und entwickeln gerade zu Nachzüglern „eine innige, schmusige Beziehung, in der sie viel Wärme und Nähe geben“, so der Professor.

Paradies mit Schattenseiten: Vor- und Nachteile der Nachzügler

Auch wenn die Spannbreite des Nachzügler-Seins – ob in Kern- oder Patchwork-Familie, vom vielleicht zweiten Kind einer 25-Jährigen mit einem nur fünf Jahre älteren Geschwister bis zum fünften Kind einer über 40-Jährigen, dessen Geschwister schon (fast) ausgezogen sind – enorm ist: Eine Tendenz zum allseitigen Umsorgen des Nesthäkchens ist fast überall gegeben. Lockerere Regeln und weniger Aufgaben im Haushalt sind nicht selten, ebenso eine größere Bereitschaft, Wünsche zu erfüllen – auch, weil die Finanzen es eher erlauben. „Meine Geschwister sind zwölf und 15 Jahre älter als ich, sie sind ausgezogen, als ich zur Schule kam bzw. in der zweiten Klasse war. Da konnten meine Eltern mir Sachen ermöglichen wie Urlaubsreisen oder Schüleraustausch, die bei meinen Geschwistern so nicht drin waren“, erinnert sich Franziska*, 32. Familienexperte Kasten weiß: „Für die Kleinen kann das das Paradies auf Erden sein. Sie können oft alles haben, sind der Mittelpunkt der Welt.“ Das Risiko: „Da wachsen sie natürlich in einer großen Anspruchshaltung auf.“ Eltern sollten auch bedenken, dass sehr bemutternde Fürsorge als Bevormundung, Unterschätzung und mangelnder Respekt ankommen kann. Die Kombination aus „Mir traut keiner was zu“ und „Ich krieg auch so alles, was ich will“ stärkt weder das Selbstbewusstsein noch die Motivation, die Nachzügler brauchen, um sich der besonderen Herausforderung aller jüngsten Geschwister zu stellen – nämlich abseits der Vorbilder älterer Geschwister eigene Wege zu suchen und zu gehen.

Einzelkind mit Geschwistern: Beziehungen sind oft harmonisch

Noch dazu, wenn jene Vorbilder ebenfalls dazu neigen, die Kleinen zu verwöhnen. Denn selbst wenn den Großen die Schwangerschaft ihrer „alten“ Mutter anfangs peinlich war oder sie sich vor dem neuen Familiengefüge ängstigten: In der Regel sind sie glücklich über den Nachwuchs. „Lena hat sich gefreut. Sie wollte immer ein ‚Zweitelkind’ sein, das hatte sie schon mit 8 gesagt“, erzählt Antje. Die große Schwester und der kleine Bruder mögen sich sehr – typisch für diese Geschwisterkonstellation, sagt Prof. Kasten: „Ein großer Altersabstand und verschiedene Geschlechter garantieren fast immer eine harmonische Geschwisterbeziehung. Hier gibt es einfach keinen Konkurrenzdruck.“ Stattdessen übernehmen die Großen hin und wieder die Verantwortung: „Vor allem ältere Schwestern beschäftigen sich gern freiwillig mit dem Nesthäkchen“, so Kasten. Zum Glück, sagt Antje: „Lena hilft mir viel, holt Felix aus der Kita ab, wenn es bei mir eng ist, bleibt am Samstag mal zu Hause, damit wir Eltern ausgehen können. Es ist auch so, dass Lena mit ihrem Freund und Felix gemeinsam etwas unternimmt.“ Solche Aktivitäten fand Franziska als Kind gut: „Meine Geschwister haben mit mir Sachen unternommen, die gleichaltrige Geschwister so nicht gemeinsam erleben.“ Allerdings, schränkt sie ein, Alltagsleben mit Geschwistern kenne sie quasi nicht: „Ich bin ein Einzelkind mit Geschwistern. Aber seitdem ich zu Hause auszogen bin und selbst Familie habe, wird der gefühlte Altersabstand immer kleiner.“ Eine solche Harmonisierung hat auch Marina mit ihrer neun Jahre älteren Schwester erlebt: „Wir sind grundverschieden und hatten immer sehr viel Streit. Meine Mutter sagt bis heute sie habe zwei Einzelkinder und musste auf vieles verzichten, da wir sehr sehr unterschiedlich waren. Jetzt sind meine Schwester und ich aber ein Herz und eine Seele.“

Aufpassen, dass die Großen nicht hinten runterfallen

Doch auch wenn zwischen den Geschwistern alles gut ist, kann die Situation für die Großen trotzdem problematisch sein. „Die Älteren halten oft nicht gut aus, dass die ganze Emotionalität auf das kleine Kind geht. Sie machen dann ihr eigenes Ding“, weiß Prof. Kasten. Genauso war es bei Lena, erzählt Antje: „Damals habe ich es nicht so empfunden, aber heute sehe ich ganz klar, die Große musste sich hinten anstellen. Wenn man noch mal ein kleines Baby hat, das so heiß ersehnt war, rückt in der Priorität alles andere nach hinten. Man kennt das ja von sich als Paar ... das spielt auch erstmal keine Rolle mehr. So ähnlich war das mit Lena, die mit 14, 15 Jahren jede Chance auf Freiheit wahrgenommen hat.“ Inzwischen – Felix ist vier, Lena 18 – hat sich alles eingespielt. „Dadurch, dass die beiden sich sehr mögen und Lena inzwischen weiß, wann wir reden können, ohne von Felix ‚gestört’ zu werden, funktioniert es besser.“

Cornflakes vs. Spiegelei: Interessenskonflikte im Familienalltag

Auch organisatorisch kann Familienalltag mit Geschwistern, deren Interessen und Ansprüche ebenso weit auseinanderklaffen wie ihr Alter, eine enorme Aufgabe sein, will man wenigstens ein bisschen Zeit gemeinsam verbringen. „Wir versuchen immer, abends zusammen zu essen, was etwa fünf Mal pro Woche klappt und sehr schön ist. Ansonsten machen wir nicht so viel alle zusammen, das ist auf eine Aktion pro Monat beschränkt, da gehen wir in den Zoo, auf ein Fest oder so etwas," sagt Antje.

Nicht selten müssen sich Eltern zudem Beschwerden von allen Seiten anhören: Die Kleinen beneiden die Freiheiten der Großen, während die es ungerecht finden, dass die Jüngsten schon mehr dürfen als sie in diesem Alter. Das ist letzlich bei allen Geschwistern so, und da gilt auch in Nachzügler-Familien der übliche Grundsatz: versuchen, jedes Kind möglichst individuell und altersgerecht zu behandeln. Das ist auch Antjes Rat für ein funktionierendes gemeinsames Leben: „Jedes Kind ist, wie es ist, man sollte nicht vergleichen und erwarten, dass es so oder so läuft. Keep calm and carry on – auch wenn das bedeutet, dass es eben für das eine Kind abends Cornflakes und für das andere Spiegelei gibt.“ Dass Ältere mal mehr schultern müssen als wünschenswert wäre und Jüngere mit Dingen in Kontakt kommen, für die sie eigentlich zu klein sind, lässt sich aber kaum vermeiden.

Nachzügler halten Eltern jung und auf Trab – aber manchmal auch auf

Für die meisten Eltern sind das keine Gründe, die Entscheidung für ein deutlich längeres Familienleben zu bereuen. Das hält uns jung, sagen sie und sind glücklich mit ihrem Nachzügler. Alexandra sieht die Sache mittlerweile nüchterner: „Im Nachhinein war die Idee mit dem dritten Kind doch nicht sooo gut. Die Älteren sind erwachsen und weg, Kind 3 beschwert sich, dass sie nie Zeit haben, und übrig geblieben ist ein Einzelkind. Dauernd Schulprobleme, Elternsprechtage, Urlaubspläne auf Ferien abstimmen… Das nervt. Und alle Pläne – wir würden gern noch mal in ein anderes Land ziehen – müssen jetzt warten, bis Kind 3 endlich erwachsen ist. Und das rechnet sich ab 40 nicht mehr so gut.“ Ähnliches gibt es bezüglich beruflicher Wünsche zu bedenken. Antje warnt vor zu hohen Erwartungen: „Man muss seine Ansprüche runterschrauben, es muss nicht eine perfekte Familie sein, das kann nur langsam wachsen. Auf jeden Fall ist es eine Ausnahmesituation, gerade fürs Paar. Zum Kitten ist so ein Nachzügler sicher nicht geeignet.“

* Namen geändert