Lesespaß im Kleinkindalter

Wie Kinder Bücher lieben lernen

Lesen ist nicht nur ein Vergnügen, es fördert die Sprachfähigkeit eines Kindes und gehört damit zu den Schlüsselkompetenzen für eine erfolgreiche Berufs- und Bildungslaufbahn. Wie Kinder früh Spaß am Lesen entwickeln, erfahren Sie hier.

Autor: Antje Szillat

Leseförderung beginnt im Kleinkindalter

zwei Kinder Buch iStock kate sept2004
Foto: © iStockphoto.com/ kate_sept2004

Darüber sind sich Experten und Laien einig: Am besten beginnt man mit der Leseförderung bei Kindern bereits im Kleinkindalter. Und seitdem die alarmierenden Pisa-Ergebnisse in diesem Bereich bekannt sind, findet die Leseförderung auch endlich mehr Beachtung. Dennoch gibt es noch viel zu tun, was eine Untersuchung im Bereich der Lesekompetenz nur noch verdeutlicht:

Fast zehn Prozent der befragten Schüler mangelt es an jeglichem Textverständnis, weitere 13 Prozent schaffen es nur, elementarste Textinhalte zu begreifen, sind aber mit einer Bewertung des Gelesenen gänzlich überfordert. 42 Prozent der Jugendlichen beantworten die Frage, ob sie zum Vergnügen lesen, mit Nein. In der Gesamtbevölkerung hat die tägliche Buchlektüre um mehr als 50 Prozent abgenommen; die Zahl derjenigen, die "nie" lesen, stieg seit 1992 um 40 Prozent. Viele Kinder geben an, dass ihnen, als sie klein waren, nie ein Märchen vorgelesen wurde. In manchen Familien wird kaum einmal ein Buch aufgeschlagen. Dabei beinhaltet eine frühzeitige Leseförderung gleichzeitig die Förderung von Sprachkompetenz.

Die Sprache gilt in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion als eine der Schlüsselkompetenzen für Bildungs- und Berufserfolge. Die Förderung von Sprachkompetenz im Vorschulalter wird als besonders Erfolg versprechend angesehen und steht deshalb in den Bildungsprogrammen aller Bundesländer an prominenter Stelle. Dagegen findet allerdings die Förderung der Frühlesekompetenzen, im Vergleich zu Nachbarländern wie Skandinavien, Frankreich und Großbritannien, bestenfalls einen Platz am Rande. Dennoch gibt es einige Erfolg versprechende Projekte, wie z.B. die bundesweite Aktion „Lesestart“.

Wussten Sie, dass ...

... 63 Prozent der Eltern ihren Kindern im „besten Vorlesealter“ nicht vorlesen?

... die Impulse, die das Gehirn in der frühen Kindheit bekommt, extrem wichtig für dessen Entwicklung sind? Durch entsprechende Stimulation wie etwa durch Vorlesen und Erzählen verknüpfen sich die Hirnzellen zu einer leistungsfähigeren Einheit.

... 29 Prozent der 12- bis 19-Jährigen höchstens einmal im Monat zu einem Buch greifen, weitere 14 Prozent nie?

... 34 Prozent der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren „nicht so gerne“ oder „gar nicht“ lesen, weitere 14 Prozent nie lesen?

Buch gegen Bildschirm: Interview mit Stefan Gemmel

'Lesen ist öde und Fernsehen und Computer viel cooler'

Leider nimmt die Zahl der Kinder, die sich für die gedruckte Form der Unterhaltung begeistern lassen, ab. „Fernsehgucken und Computerspielen ist viel cooler – Lesen dagegen ist anstrengend und doof“, lautet die vielfache Meinung. Kindern fällt es oftmals wesentlich leichter, sich vom Bildschirm mit Bilder versorgen zu lassen, statt sie sich durch das "er"lesen eines Buches quasi zu "erarbeiten". Häufig erleben sie dadurch das Lesen eines Buches nicht mehr als ein Abenteuer, sondern als eine Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Von dem Kinder- und Jugendbuchautoren Stefan Gemmel, der 2007 mit dem Bundesverdienstkreuz - unter anderem für sein Engagement in der Lese- und in der Jugendförderung - ausgezeichnet wurde, wollten wir in einem Interview etwas zum Thema „Buch gegen Bildschirm“ erfahren.

Herr Gemmel, wie wecke und erhalte ich den Spaß am Lesen bei meinen Kindern und das auch dann, wenn TV und Computer im Alltag des Kindes eine wachsende Rolle spielen?

Gemmel: Die wichtigste Regel: Lassen Sie sich erwischen! Eltern sind Vorbilder für die Kinder. Und wenn Eltern sich mit einem Buch „sehen lassen“, dann weckt das auch das Interesse der Kinder an Büchern.Und natürlich: Sprechen Sie mit Ihren Kindern über Literatur. Bei einem Spaziergang im Wald kann man leicht Kinder zu „Experten“ werden lassen, wenn diese Märchen kennen. Die einfache Frage „Und wenn da gleich ein Knusperhaus steht“ wird die Kinder spielerisch animieren, über die Geschichte zu erzählen und das Kind wird spüren, dass es im Thema „Literatur“ einfach mitreden kann.

Oder man stellt die Frage: „Das hier erinnert mich an diese eine Geschichte mit dem Turm und dem Mädchen mit den langen Haaren – wie hieß die noch gleich?“ Mit strahlenden Augen werden Sie die Antwort erhalten und verbinden so den aktuellen Moment mit dem Hintergrundwissen Ihres Kindes zu diesem Thema. Es wird stolz sein und glücklich und sich durchaus auch „literarisch“ fühlen.

Kann man Leselust auch mit beiden Medien fördern - Lesen kann man ja auch am Computer, was ist anders und Ihrer Meinung nach besser am Buch?

Gemmel: Das Buch kann sich – im Gegensatz zu den allermeisten anderen Medien – dem Kind anpassen. Anders als beispielsweise beim Fernsehen wird hier kein Tempo für die Verarbeitung von Geschichte und Bild vorgegeben. Und Bücher bieten auch wie kein anderes Medium die Möglichkeit, sich auszutauschen. Das Kind kann dem Vorlesenden Fragen stellen, es kann zurück blättern oder zu einem bestimmten Aspekt seine Meinung äußern. Gemeinsam kann man über die Tiere in den Bildern sprechen oder leicht ins Gespräch über die dargestellten Situationen kommen. Während an PC und TV die Story weiter läuft, kann man am Buch inne halten und sich die Zeit nehmen, die das Kind benötigt.

Warum ist das Lesen überhaupt so wichtig und gut für Kinder?

Gemmel: Lesen ist das optimale „Rundum-Förderprogramm“ für jedes Kind. Es geht dabei ja nicht nur darum, den kleinen Zuhörern Geschichten zu erzählen. Nein, vielmehr werden zahllose Fähigkeiten geschult. Zum Beispiel sich auf eine Sache zu konzentrieren. Eine Fähigkeit, die dem Kind bei seinem schulischen Werdegang in jedem Fach nutzen wird. Oder die Fähigkeit zur Empathie, also mit den Figuren mitzufühlen, sich in deren Situationen hinein zu versetzen und mit ihnen dem Sieg entgegen zu fiebern.

Oder auch die soziale Komponente: Kinder, die vorgelesen bekommen, erleben das herrliche Gefühl, einen Erwachsenen für Momente nur für sich genießen zu dürfen. Sie erleben, dass sie wertvoll sind, denn Erwachsene geben von ihrer Zeit ab, nur um dem Kind einen schönen Vorlese-Moment schenken zu können.

Sich zurückziehen und sich eine Auszeit nehmen können – auch das lernen Kinder durch das Lesen und Vorlesen und diese Fähigkeit wird in unserer hektischen Zeit, in der unzählige Reize auf die Kinder einströmen, immer wichtiger.

Und das sind nur einige wenige Beispiele. Bücher bringen Kinder zum Lachen und zum Weinen, zum Nachdenken und zum Träumen. Sie bieten Auszeiten oder phantastische Abenteuer, können trösten und ablenken, können Freundschaften und auch Feindschaften hervorrufen – alles Dinge, die jedes Kind in seinen ersten Lebensjahren erleben sollte.Lesen fördert Kinder in allen Lebensbereichen, ja sogar haptisch, wenn man Kinder animiert in Bildern auf Dinge zu zeigen. Es gibt nur wenige Einflüsse, die so kompakt ein Kind unterstützen wie es ein Buch tun kann. Und das Beste: Dieses „Allround-Programm“ lässt sich leicht in die Tasche stecken und überall hervorzaubern. Und das ist es auch, was Kinder begeistert: Bücher sind buchstäblich Wegbegleiter, die verzaubern können.

Tipps zur Leseförderung

Erleben Sie mit Ihrem Kind regelmäßig eine gemeinsame „Bücher – und Lesezeit“

Um Bücher kennen – und lieben zu lernen, kann es für ein Kind nie zu früh (und selbstverständlich auch nie zu spät) sein. Natürlich ist ein Baby oder ein Kleinkind noch nicht in der Lage, selbst ein Buch zu lesen – aber gemeinsam mit Ihrem Kind in die spannende Welt der Bücher einzutauchen, damit können Sie gar nicht früh genug beginnen.Sie werden staunen, was bereits ein Säugling mit Büchern „anfangen“ kann. Zum Beispiel kann Ihr Kind schon frühzeitig Bilder, Töne und Formen wahrnehmen und ist neugierig auf alles, was in seiner Umgebung geschieht. Kinder lieben Gedichte, Lieder und bunte Bilder. Indem Sie mit ihm Bücher anschauen und befühlen, regelmäßig vorsingen und kleine Fingerspiele machen, helfen Sie Ihrem Kind schon frühzeitig beim Sprechenlernen – unterstützen somit die Sprachentwicklung Ihres Kindes von Anfang an.

Täglich eine halbe Stunde Bücherabenteuer

Und deshalb sollten Sie auch aus der gemeinsamen Buchzeit ein Ritual werden lassen. Am besten beschäftigen Sie sich jeden Tag zu derselben Zeit gemeinsam mit Ihrem Kind mit Büchern. Testen Sie aus, wann dafür der richtige Zeitpunkt ist – das muss nicht zwangsläufig die Zeit vor dem Schlafengehen sein. Machen Sie es sich mit Ihrem Kind kuschelig und gemütlich und sorgen Sie dafür, dass Sie ungestört sind. Ein halbe Stunde „Bücherabenteuer“ ist optimal (hängt natürlich stark vom Alter Ihres Kindes ab). Doch wichtiger als die Dauer ist die Regelmäßigkeit, deshalb kann das gemeinsame Bücherabenteuer auch mal kürzer ausfallen – aber bitte regelmäßig!

Schaffen Sie für die Lesezeit ein angenehmes Umfeld

Nähe, Geborgenheit und Verbundenheit sind die idealen Voraussetzungen, damit Sie die Fähigkeit Ihres Kindes zuzuhören fördern können. Durch das Zuhören bereiten Sie Ihr Kind darauf vor, sich später (wenn es älter ist) mit einem Buch beschäftigen – darüber reden – zu können. Nehmen Sie Ihr Kind auf den Schoss oder kuscheln Sie sich nah aneinander. Schaffen Sie eine vertraute und angenehme Atmosphäre, damit Ihr Kind Bücher mit positiven Gefühlen und Empfindungen verbindet. Erzählen Sie Ihrem Kind, was Sie in dem Buch sehen und stellen Sie ihm Fragen und kleine Aufgaben dazu (auch, wenn Sie die Fragen und Aufgaben anfangs selbst beantworten und erfüllen müssen). Zum Beispiel „Wo ist der rote Ball?“, oder „Was macht denn der Hund da?“.

Meistens haben die Kinder schon sehr früh ein Lieblingsbuch, das sie immer und immer wieder ansehen oder vorgelesen bekommen möchten. Und das ist auch gut so! Selbst wenn Sie ein ganzes Regal gefüllt mit den unterschiedlichsten Bilder- und Vorlesebüchern haben, sollten Sie Ihr Kind immer wieder das eine – sein momentanes Lieblingsbuch - auswählen lassen. Zwingen Sie Ihr Kind nicht zu einem anderen Buch, weil Sie vielleicht denken, jetzt ist es langsam an der Zeit, sich mit einem anderen (vielleicht "anspruchsvolleren") Buch zu beschäftigen. Ihr Kind bestimmt das Tempo, und wenn es nun mal das kleine rote Pappbilderbuch "Anton, die rote Maus" so sehr liebt, dann sollten Sie ihm auch genau dieses Büchlein geben – oder immer wieder vorlesen.

Wenn das Kind alt genug ist, kann es das Buch schon selbst halten und alleine umblättern. Nehmen Sie sich ausreichend Zeit, um darüber zu sprechen. Verbinden Sie die Geschichte, die das Buch erzählt – wenn zum Beispiel in einem Bilderbuch ein Kinderspielplatz oder eine Schaukel in einem Garten zu sehen ist – mit realen Dingen, die Ihr Kind bereits erlebt hat. Rufen Sie bei Ihrem Kind die Erinnerung an diese Erlebnissen in Erinnerung. „Weißt du noch, wie du dich gefühlt hast, als du auf der Schaukel gesessen hast?“, oder „Im Garten haben wir doch den bunten Schmetterling gesehen. Erinnerst du dich?“, oder auch: „Ist auf unserem Spielplatz auch eine Sandkiste?“

Wie Sie das Interesse Ihres Kindes an Büchern sonst noch wecken können

Reden Sie viel mit Ihrem Kind! Damit ein Kind ein guter und begeisterter Leser werden kann, muss es zunächst lernen, ein guter Gesprächspartner zu sein. Das gilt natürlich nicht nur für die Förderung der Leselust – Gespräche sind von großer und wichtiger Bedeutung für die Entwicklung eines Kindes. Es ist erschreckend, wie viele Kinder in der heutigen Zeit beklagen, dass ihre Eltern zu wenig mit ihnen sprechen.

Auf das Lesen bezogen, lernen die Kinder durch die Gespräche neue Wörter kennen - und wie man diese anwenden kann. Ihr Vokabelschatz wird auf- und ausgebaut. Später, wenn sie diesen Wörten in gedruckter Form wiederbegegnen, werden sie diese schnell wiedererkennen. Außerdem werden die Kinder automatisch durch Gespräche mit dem Klang und der Bedeutung der einzelnen Wörter vertraut gemacht. Als Eltern können Sie mit ganz alltäglichen Dingen diesen Prozess fördern:

  • Antworten Sie ausführlich und geduldig auf die Fragen Ihres Kindes.
  • Benutzen Sie viele und unterschiedliche beschreibende Wörter (Adjektive), wenn Sie gemeinsam mit Ihrem Kind etwas Neues sehen, entdecken, erleben.
  • Nennen und erklären Sie Ihrem Kind die Namen (und vielleicht auch Bedeutungen – je nach Alter) unbekannter Dinge.
  • Leben Sie Ihrem Kind vor, dass Bücher und das Lesen zu unserer – zu Ihrer – Welt dazugehört! Sie sind das größte Vorbild für Ihr Kind. Wenn sie sehen, dass Sie einfach nur so zum Spaß, aber auch zu Informationszwecken lesen, werden sie es auch wollen – Kinder sind begeisterte Nachahmer!
  • Verbinden Sie auch hier ganz Alltägliches mit der Förderung der Leselust bei Ihrem Kind. Das können zum Beispiel eine Gebrauchsanweisung sein oder ein Telefonbuch oder ein Busfahrplan – es muss nicht immer „gleich“ das Buch sein. Die Kinder erleben, dass Lesen einfach auch „nur“ zu Informationszwecken nützlich und wichtig ist und bekommen somit zahlreiche Möglichkeiten, dies nachzuahmen. Dadurch werden sie gut und ganz nebenbei auf den Zeitpunkt des wirklichen Lesens vorbereitet. Auch dies können Sie mit ganz einfachen Dingen spielerisch unterstützen, indem Sie:

    - ein Telefonbuch neben das Spielzeugtelefon Ihres Kindes legen
    - Bauanleitungen etc. neben die Spielzeugwerkbank
    - Rezepte oder Kochbücher neben den Spielzeugherd
    - Stapel von „alten“ Zeitschriften zugänglich machen. Die Kinder können damit „erwachsenes Lesen" spielen
    - Ihrem Kind vorschlagen, seinem Stofftier oder Lieblingspuppe Bücher „vorzulesen“

Welches ist das „beste“ Buch für mein Kind?

Für Babys und Kleinkinder eignen sich besonders gut:

  • Klappen- und Tastbücher und Pop-up-Bücher.
  • Bilderbücher mit großen, klaren Illustrationen.
  • Bücher mit Bildern von Alltagsgegenständen.
  • Bücher über "erste Erfahrungen", z.B. ein Besuch im Zoo oder beim Arzt oder der erste Tag im Kindergarten.

Für Leseanfänger gibt es jede Menge „altersentsprechende“ sogenannte Lesestufen- oder Leseleiter Bücher. Bücher, in denen bestimmte Wörter durch kleine Illustrationen ersetzt sind, kommen oftmals sehr gut bei Leseanfägern an.

Ein Buch darf nicht zu dick und die Schrift nicht zu klein sein. Denn Kinder sollten sich mit einem Buch nicht „überfordert“ fühlen, weil sie die Anzahl der Seiten „in Panik“ versetzt. Darin sind Kinder aber natürlich wie in allem sehr verschieden. Das eine Kind liest bereits im Alter von sechs Jahren flüssig und kann ein Buch mit mehr als 40 Seiten einfach bewältigen, ein anderes Kind plagt sich vielleicht noch im Alter von neun Jahren mit den gleichen 40 Seiten herum.

Die beste und intensivste Förderung, die Sie Ihrem Kind zukommen lassen können, ist, dass Sie sich mit Ihrem Kind beschäftigen – ihm zuhören, antworten, da sind, ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, es ernst nehmen, Nähe zulassen, gemeinsame Zeit verbringen und Wissen und Erziehung nicht ausschließlich anderen oder sogar im ungünstigsten Fall dem PC und TV überlassen.