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Hilfe für kleine Mauerblümchen

Mein Kind ist schüchtern

Sie wehren sich nicht gegen Vordrängler, antworten nicht, wenn sie angesprochen werden und schauen lieber zu, wenn andere spielen – schüchterne Kinder. Eltern sehen das meist mit Sorge: Wird das Kind sich durchsetzen können? Fühlt es sich ausgeschlossen? Alles über scheue Kinder und wie man sie aus der Reserve lockt.

Autor: Gabriele Möller

Wenn das eigene Kind lieber am Rande steht

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Foto: © iStock, LumineImages

Meine Tochter Elina sprach in ihrer Kindergartenzeit fast nie von sich aus mit den Erzieherinnen. Sie spielte außerdem viel allein. Sie hatte aber außerhalb des Kindergartens zwei beste Freundinnen, mit denen wir uns oft trafen. War sie mit ihnen zusammen, vergaß sie jede Zurückhaltung, redete sprudelnd und steuerte das Spiel energisch mit. Sprachen aber erwachsene Besucher sie an, schaute sie nur nachdenklich und antwortete nicht. Sie wollte bei Geburtstagseinladungen nicht allein beim Gastkind bleiben, so dass auch ich dableiben musste. War Kirmes, drehte ich seufzend meine Runden auf dem Kinderkarussell mit ihr, denn sie wollte keinesfalls mit all den fremden Kindern allein fahren. Mein Mann und ich fragten uns in bangen Momenten, ob sie nicht sehr unter ihrer Zurückhaltung litt. Und beim Gedanken an den Schuleintritt wurde uns erst recht ganz anders: Würde sie jemals mit der Lehrerin sprechen? Würde sie in der Klassengemeinschaft nicht hoffnungslos untergebuttert werden?

Was ist eigentlich Schüchternheit?

Schüchternheit äußert sich bei Kindern auf vielerlei Weise. "Die Symptomatik lässt sich dreifach beschreiben: Als körperliches Symptom, wie Erröten, Herzklopfen, flaues Gefühl in der Magengegend; als soziales Symptom, wie Gehemmtheit, Rückzugsverhalten, Unbeholfenheit; und als kognitives, wie hohe Selbstaufmerksamkeit, negative Selbsteinschätzung, Selbstablehnung“, erklärt der Schweizer Pädagoge Prof. Dr. Georg Stöckli. „Schüchterne (Kinder) fürchten an Begegnung mit anderen die vermeintliche ständige soziale Bewertung". Will heißen, scheue Kinder fühlen sich immer wie auf dem Präsentierteller und haben Angst, abschätzig behandelt oder abgelehnt zu werden. Passiert ihnen dies – wie jedem Menschen – tatsächlich hier und da, nehmen sie es sich mehr zu Herzen als andere. Um diese Erfahrung dann zukünftig zu vermeiden, halten sie sich sicherheitshalber erst recht bedeckt – und lieber am Rand des Geschehens auf. Doch warum sind manche Kinder kleine Draufgänger, und andere so scheu?

Die Anlage zur Schüchternheit ist angeboren

Die Veranlagung zur Schüchternheit gilt als angeboren. Forscher der Harvard-Universität haben unter Leitung von Carl E. Schwartz entdeckt, dass schüchterne Menschen eine höhere Reizbarkeit der Amygdala besitzen. Dieser sogenannte Mandelkern ist diejenige Stelle im Gehirn, die Angstgefühle, aber auch Abenteuerlust und Mut steuert. Die erhöhte Empfindlichkeit, die schüchterne Kinder hier besitzen, bleibt ihnen lebenslang erhalten. Dass sie angeboren ist, dafür spricht auch, dass bereits Säuglinge sich stark darin unterscheiden, wie sie auf Fremdes reagieren: „Wir haben immer dieses Bild im Kopf, dass Kinder von Natur aus soziale Wesen sind“, sagt Jens Asendorpf, Psychologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität. „Doch das ist Unsinn. Bei kleinen Kindern gibt es genauso große Unterschiede in der Persönlichkeit wie bei Erwachsenen.“ So fangen manche Babys bei Unvertrautem an zu weinen, andere sind neugierig und offen.

Unsicherheit wird auch von den Eltern abgeschaut

Doch die Gene geben nicht allein den Ton an. Denn zugleich schauen sich Kinder auch das Verhalten und die Reaktionen ihrer Eltern ab. „Kinder sind äußerst lernfähig, wenn es darum geht, die sozial gehemmten Verhaltensweisen von den Eltern zu übernehmen. Schüchterne Kinder leben meist in Familien, in denen sich Vater, Mutter oder beide Eltern eher durch zurückgezogenes und vorsichtiges Verhalten auszeichnen“, erklärt Michael Schnabel, Religionspädagoge am bayrischen Staatsinstitut für Frühpädagogik (ifp). Hier schlitterten Eltern schnell in einen Teufelskreis: „Sie merken selbst die Nachteile schüchternen Verhaltens und wollen ihre Kinder mit aller Kraft zu einem mutigen und forschen Verhalten bringen. Ein verheerender Fehler! Penetrante Hinweise auf die Schüchternheit sowie Ermahnungen und Lächerlichmachen verstärken das schüchterne Verhalten“. Aufforderungen wie „Nun lass dir doch nicht alles gefallen!“ bewirken also das Gegenteil, denn ein schüchternes Kind kann seine Gefühle nicht einfach abstellen. Es leidet dann zusätzlich: Neben seiner Ängstlichkeit kommt noch das Gefühl hinzu: So, wie ich bin, gefalle ich meinen Eltern nicht.

Hilfe für zarte Mauerblumen

Doch wie können Eltern stattdessen mit der Zurückhaltung ihres Kindes umgehen? Vor allem sollten sie realistisch bleiben. Das Ziel kann nicht sein, aus einem schüchternen Kind einen kleine Stimmungskanone zu machen, denn: „Die Eigenart ‚schüchtern’ wird zunächst einmal bleiben“, betont Kinderärztin Dr. Ursula Keicher. „Aber das Kind kann lernen, mit ihr zu leben und damit glücklich zu sein. Denn natürlich können wir im Laufe unseres Lebens unser Handeln und unser Auftreten beeinflussen, so dass gewisse Eigenarten nicht mehr allzu sehr für Andere sichtbar sind.

Eltern sollten die Schüchternheit des Kindes nicht ansprechen, sondern unauffällige Schützenhilfe leisten. Sie können ihrem Kind zeigen: Du bist wunderbar und richtig so, wie du bist! Wenn Außenstehende zum Kind sagen: „Aber du brauchst doch keine Angst zu haben!“ können Eltern dem Kind zur Seite springen und sagen: „Lisa hat keine Angst. Sie möchte aber im Augenblick nicht mitmachen/herkommen/mit Ihnen reden - vielleicht mag sie später.“ Dem Kind zu zeigen, dass es angenommen ist, gibt ihm Sicherheit und Vertrauen. Ein solches Kind wird meist in Kindergarten oder Schule auch nicht gehänselt oder gemobbt. Es sendet unterschwellig ganz andere Signale als ein Kind, das diese Sicherheit nicht hat.

Wichtig ist außerdem, das Kind zwar nicht zu ungewollten Tätigkeiten aufzufordern, aber es dazu zu ermutigen: „Meinst du, wenn ich mit dir hingehe, könntest du dem anderen Kind sagen, dass DU jetzt dran bist?“ Eltern sollten sich aber nicht enttäuscht zeigen, wenn dies noch nicht klappt, und den Nachwuchs für jeden noch so kleinen Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstvertrauen loben - auch wenn es immer zwei Schritte vorwärts und einen Schritt rückwärts zu gehen scheint.

WIe du das Selbstbewusstsein deines Kindes stärken kannst, beantwortet der bekannte Erziehungsexperte Jan-Uwe Rogge in diesem Video:

Schüchterne Kinder brauchen mehr Zeit

Schüchterne Kinder haben oft ein schwaches Selbstwertgefühl. Sie nehmen Erfolgserlebnisse weniger stark wahr als Misserfolge. Oft sind sie ungeduldig mit sich selbst, wenn es um das Lernen einer neuen Fähigkeit geht. Typische Aussagen sind: „Das kann ich nicht“, „Die Anderen können das alle schon“, „Bei mir geht immer alles schief“. Hier sollten Eltern gegenhalten mit Aussagen wie: „Schau mal, du hast schon so Vieles geschafft. Du hast neulich...“ (konkrete Beispiele nennen).

Zurückhaltende Kinder sprechen oft auch eher leise. Hier hilft ein Vorlesebuch wie „Wo die wilden Kerle wohnen“ mit mehreren Seiten, auf denen das Kind das Gebrüll der schaurig-schönen Monster genussvoll mitbrüllen kann. Oder auch das Buch „Das große und das kleine Nein!“, bei dem ein Kind lernt, ein sattes „Nein!“ zu schmettern in Situationen, in denen Außenstehende seine Grenzen verletzen (s. Serviceteil). Doch nicht nur Schreien, sondern auch körperliches Austoben (und später ein sportliches Hobby) tut schüchternen Kindern gut. Denn Bewegung löst Ängste und verschafft Erfolgserlebnisse.

In Kindergarten und den ersten Grundschuljahren schaffen scheue Kinder manchmal noch nicht, auf Kinder zuzugehen, die sie nett finden. Hier ist etwas elterliche Hilfe gefragt. Man kann mit dem Kind zusammen die Mutter eines anderen Kindes ansprechen und z. B. sagen: „Emily sagte mir, sie würde Ihre Marie gern einmal zum Spielen einladen.“

Etwas vor allem brauchen Eltern, Erzieher und Lehrer schüchterner Kinder: Geduld. Zurückhaltende Kinder benötigen in neuen Situationen mehr Zeit als andere. Sie müssen sie erst einmal genau anschauen, sie kennenlernen, ihre Regeln verstehen. Drängeln durch die Großen verlängert diese Phase eher. Auch sollten Erwachsene ihren „Mauerblümchen“ nicht zuviel abnehmen: Schüchterne Kinder werden leicht unterschätzt, obwohl sie – in ihrem eigenen Tempo und mit ihren eigenen Strategien – viele Situationen allein bewältigen können.

Wie viel Schüchternheit ist normal?

Die meisten Kinder sind nur in unbekannten Situationen oder gegenüber Außenstehenden schüchtern und tauen irgendwann auf. „Die Kinder wollen zwar gern Kontakt zu anderen aufnehmen, trauen sich aber nicht. Sobald aber die fremden Menschen zu Bekannten werden, tauen sie auf und beginnen, sich wohlzufühlen. Dann kann man die anfänglichen Leisetreter kaum noch von den Mutigeren unterscheiden“, so Entwicklungspsychologe Asendorpf. Es gibt aber auch Kinder, die auch nach längerer Zeit nicht auftauen. Hält sich dieses Verhalten über Jahre, sollte mit dem Kinderarzt besprochen werden, ob es sich um den sog. selektiven Mutismus (Schweigen in bestimmten Situationen) handelt. Diese (eher seltene) Störung muss behandelt werden, wobei eine Sprach-, Psycho- oder Familientherapie, oder auch eine psychiatrische Abklärung in Frage kommen.

Sehr extreme Schüchternheit kann bei einem älteren Kind auch Ausdruck einer Sozialphobie (Angst vor Kontakt mit Menschen) sein. Hier besteht eine große Furcht vor manchen Situationen mit anderen Menschen, die sich körperlich durch Zittern, Herzrasen, Schwitzen, Atemnot, Sprechhemmung, Schwindelgefühle, Magen- oder Kopfschmerzen, Durchfall sowie Panikgefühle äußern kann. Bei Verdacht sollte mit dem Kinder- und Jugendarzt über eine Beratung durch einen Kinderpsychologen gesprochen werden. Auch hier helfen verschiedene Therapieformen bei der Bewältigung.

Stille Kinder werden leicht übersehen

Als unsere Tochter Elina in die Schule kam, zeigte sich bald, dass wir aufatmen konnten – und dass wir sie unterschätzt hatten. Mit dem Schuleintritt schaffte sie für sich selbst einen großen Schritt: Sie überwand sich, machte im Unterricht mit und sprach bald auch von sich aus die Lehrerin an. Sie knüpfte auch erste Kontakte mit ihren Mitschülern. Sie blieb dennoch eher zurückhaltend, und während der Grundschulzeit kam es nur zu lockeren Freundschaften (was sich erst auf der weiterführenden Schule änderte). Untergebuttert wurde sie nie, weil sie sich in aller Stille gut behaupten konnte. Die mangelnde mündliche Mitarbeit war aber immer wieder das Hauptthema beim Elternsprechtag. Manchmal fühlte sie sich ungerecht bewertet, weil sie fand, dass es Kinder gab, die sich zwar oft meldeten, aber wenig Substantielles zu sagen hatten. Wohingegen sie selbst nur die Hand hob, wenn sie dachte, ihr Beitrag habe Hand und Fuß – was dazu führte, dass sie oft übersehen wurde.

Dies ist ein häufiges Problem schüchterner Kinder, hat auch Prof. Georg Stöckli beobachtet. Während Kinder, die den Unterricht störten, sofort im Fokus der Aufmerksamkeit stünden, übersähen Lehrer die stillen Kinder allzu leicht: „Schüchternheit stört den Schulalltag nicht. Ihre Auffälligkeit besteht im Verborgenen. Sie beeinträchtigt die Persönlichkeit und die gesunde psychische Entwicklung der betroffenen Kinder verdeckt und im Stillen.“ Wenn Eltern das Gefühl haben, ihr schüchternes Kind werde – weil es so „pflegeleicht“ ist – in der Schule zu wenig gesehen, sollten sie daher das Gespräch mit den Lehrern suchen. Lehrer müssen im Schulalltag immer wieder bewusst daran denken, auch ein stilles Kind genauer anzuschauen. Denn es braucht viel positives Feedback und Aufmerksamkeit, um aus seinem Schneckenhaus zu kommen und ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Schüchterne sind genauso erfolgreich

Eine Hauptsorge von Eltern scheuer Pflänzchen kann jedoch entkräftet werden: Auch sehr schüchtern veranlagte Kinder haben zumindest notenmäßig in der Schule nur wenige Nachteile. Es gibt laut einer Schweizer Studie zwar beim Notendurchschnitt eine Abweichung nach unten gegenüber nicht-schüchternen Kindern. Diese Abweichung beträgt aber nur wenige Zehntel Stellen hinter dem Komma. Weil hier oft die mündliche Mitarbeit eine Rolle spielt, können Eltern mit dem Kind eine Vereinbarung treffen: Es kann versuchen, darauf zu achten, in jeder Schulstunde ein Mal zu Wort zu kommen. Dieses konkrete, kleine Ziel ist für das Kind überschaubar und sorgt dafür, dass der Lehrer es regelmäßig hört und wahrnimmt.

Im späteren Leben fällt dann sogar die kleine Abweichung in der Leistung gegenüber Gleichaltrigen weg: Im Beruf sind Schüchterne genauso erfolgreich, wie kontaktfreudige Menschen. Dies ergab eine Langzeitstudie des Münchner Max-Planck-Instituts, die über knapp 20 Jahre lief (sog. LOGIK-Studie von 1984 bis 2004). Es wurden schüchterne Kinder ab drei Jahren bis ins Erwachsenenalter beobachtet. Das Ergebnis: Zwar waren die Schüchternen generell etwas später dran bei der Partnerfindung und beruflichen Entwicklung, weil sie etwas zögerlicher an Neues herangingen. Sie erreichten aber letztlich beruflich genauso ihre Ziele und haben ebenso gute Stellungen, wie die Draufgänger unter ihren Altersgenossen.

Schüchternheit macht vorsichtig

Eltern, die immer noch mit der Veranlagung ihres Kindes hadern, sollten zudem bedenken, dass Schüchternheit auch schon für Kinder nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile hat: Sie ist oft gleichbedeutend mit Vorsicht. Zurückhaltende Kinder verhalten sich bedachtsamer, geraten nicht so schnell in Gefahr und verletzen sich seltener. Schüchternheit ist also auch eine Art natürliche Kindersicherung. Betroffene Kinder schauen und denken meist zuerst, bevor sie handeln – während ein „Hans-Dampf“ spontaner handelt und die Folgen weniger abschätzt.

Bücher für Eltern und Kinder

  • Sabine Ahrens-Eipper, Katrin Nelius, Uwe Ahrens: „Mutig werden mit Til Tiger: Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Lehrer von schüchternen Kindern“
    Hogrefe-Verlag, ISBN-13: 978-3801722029:
  • Gisela Braun, Dorothee Wolters: „Das große und das kleine Nein“
    Verlag An der Ruhr, ISBN-13: 978-3927279810.
  • Maurice Sendak: „Wo die wilden Kerle wohnen“
    Diogenes, ISBN-13: 978-3257005134.