Eine brisante Erziehungsfrage

Strafen – darf man das noch?

Strafen als Erziehungsmittel sind in Verruf geraten, sicherlich aus gutem Grund. Dennoch kommen Eltern oft nicht ganz ohne aus, auch wenn sich Strafen heute manchmal mit anderen Namen tarnen. Ist das wirklich nötig oder sogar sinnvoll?

Autor: Gabriele Möller

Strafen: Immer entwürdigend oder notwendiges Erziehungsmittel?

Maechen Angst Strafe
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Allein das Wort Strafe löst bei den meisten Eltern schon beginnendes Bauchweh aus. Strafe, das klingt nach unterdrückten, verängstigten Kindern und lieblos-strengen Eltern, nach etwas total Gestrigem also. Bestrafungen, so finden viele Mütter und Väter, haben in der Erziehung heute rein gar nichts mehr zu suchen. Weil sie – so flüstert das Bauchgefühl – die Würde des Kindes doch gar nicht anders als verletzen können, ihm also seelischen Schaden zufügen müssen. Einige Rufer in der Wüste plädieren aber dafür, dass angemessene, möglichst gerechte, gewaltfreie Bestrafungen in der Erziehung nicht geächtet sein sollten. Ein unvoreingenommener Blick auf Pro und Contra dieses schwierigen Themas lohnt und deckt manch überraschenden Aspekt auf.

Was ist eigentlich ein Fehlverhalten des Kindes?

Früher war zwar nicht alles besser, aber Vieles einfacher. So auch das Erziehen. Es gab eine breite Übereinstimmung darüber, was Erziehung leisten sollte: Ihr erstes Ziel war die Vermittlung von Tugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß, Anstand, Gerechtigkeit sowie von gesellschaftlichen Regeln. Heute ist längst nicht mehr definiert, was eine Tugend ist, und gesellschaftliche Regeln und Werte haben sich zum Teil gelockert, zum Teil überlebt. Es zeichnet sich ab: Bevor man über Konsequenzen aus kindlichem Fehlverhalten nachdenkt, muss man zuerst definieren, was eigentlich „Fehlverhalten“ für einen selbst bedeutet.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schlägt hier vor, Kindern heute Dinge nicht mehr zu verbieten, nur weil „man“ sie nicht tue. Eltern sollten Grenzen nur für sich selbst zu definieren, nicht für das Kind: „Wenn du so laut bist, kann ich nicht lesen, sei leiser!“ Regeln dürfen nicht starr und sinnentleert sein, findet auch Dr. Rüdiger Posth: „Regeln haben nur dann Sinn und werden auch eingehalten, wenn das Kind die Regel sinnvoll finden kann“, so der Kinderarzt in seinem Online-Beratungsforum.

So weit, so gut. Was aber tun, wenn der Nachwuchs diese Grenzen oder Regeln verletzt hat? Bis vor wenigen Jahrzehnten war klar, was auf einen Regelverstoß folgte: Kinder wurden bestraft – mit Schlägen, mit Essensentzug oder „Stubenarrest“. Heute sind Eltern verunsichert, wie sie reagieren sollen, wenn ihr Kind etwas „ausgefressen“ hat. Wenn es gelogen, geklaut, etwas absichtlich kaputt gemacht oder eine Vereinbarung gebrochen hat, wenn übernommene Pflichten nicht ausgeführt, gezündelt, einem anderen Kind geschadet oder ein Tier misshandelt hat.

Brisante Frage: Mein Kind haut andere Kinder. Was kann ich tun? Die Antwort des Erziehungsexperten Jan-Uwe Rogge hier im Video:

Strafen tarnen sich mit anderen Namen

Obwohl viele Eltern Bestrafungen entschieden ablehnen, hat sich die Strafe durchs Hintertürchen in unseren Erziehungsalltag längst wieder eingeschlichen, allerdings unter anderen Namen. Um unsere reflexartige Abwehr gegen den Begriff zu umgehen, tarnt sie sich als „Konsequenz“, „Folge“, „Auszeit“ oder „stiller Stuhl“. Am häufigsten wird sie dabei als Teil der alltäglichen Erpressung von Kindern angewandt: „Wenn du nicht aufräumst, gehen wir nachher nicht zum Jan“, „Wenn du nicht hörst, fällt unser Ausflug ins Wasser“.

Aber, so wird manch einer einwenden, eine Konsequenz ist ja keineswegs dasselbe, wie eine Strafe. Vor allem das bekannte Konzept der „logischen Folge“* sieht doch vor, dass ein Kind lernt, dass ungünstiges Verhalten ungünstige Folgen hat. Doch funktioniert das im Alltag wirklich? Jüngst war in der Zeitung zu lesen, dass eine Mutter in München von der Polizei angehalten wurde, weil ihr Kind bei Wintertemperaturen nackt im Fahrradsitz saß. Auf Nachfrage der Beamten erklärte sie, das Kind habe sich nicht anziehen lassen wollen und solle nun sehen, wie sich das bei der Kälte anfühle. Sinnvoller ist es da, die Konsequenz gleich vorwegzunehmen, findet Dr. Posth: „Wenn ich dich nicht anziehen kann, können wir nicht rausgehen, denn es ist kalt. Dann können wir Lina leider nicht besuchen gehen.“ Die Idee stößt dennoch auch hier an ihre Grenzen: Was ist, wenn man nun aus dem Hause gehen muss? In den Elternforen im Internet posten denn auch regelmäßig ratlose Mütter und Väter, denen für eine Situation keine „logische Folge“ einfällt.

Funktioniert Erziehung ganz ohne Sanktionen?

„Wir haben’s ja gleich gesagt, mit Druck geht sowieso gar nichts“ stellt nun vielleicht die Gruppe derjenigen Eltern befriedigt fest, die auf keinen Fall mit Konsequenzen oder gar Strafen erziehen möchten. Sie praktizieren eine liberale und demokratische Erziehung, behandeln ihr Kind wie einen gleichberechtigten Partner und setzen auf Einsicht und Selbststeuerung des Nachwuchses. Fehlverhalten wird dem Kind wortreich erklärt, bis der Sprössling nickt und signalisiert, dass die Botschaft angekommen sei. Das klingt bestechend, scheint aber auch nicht besonders gut zu funktionieren. Nicht nur Entwicklungspsychologen beobachten längst: Viele solcher Kinder wirken keineswegs zufriedener oder ausgeglichener, sondern im Gegenteil. Sie sind oft nur kaum in der Lage, auf sofortige (Konsum-) Wunscherfüllung zu verzichten oder die Bedürfnisse anderer auch wahrzunehmen. Wer kennt nicht im Bekanntenkreis mindestens ein allzu grenzenloses Kind, das inmitten seiner scheinbaren Freiheit aggressiv und chronisch unzufrieden wirkt?

Erziehen: Balanceakt zwischen Freiheit und Führung

„Erziehen ist eine widersprüchliche Aufgabe“, stellt daher Ursula Neumann fest. „Das Kind braucht Freiheit und Anpassung. Es muss wachsen dürfen, das heißt selbst bestimmen, und zugleich braucht es ein Führen, weil es noch ganz seinen naturgebundenen Impulsen ausgesetzt ist, die es ohne Hilfe von Erwachsenen nicht steuern lernt“, so die Autorin („Wenn die Kinder klein sind, gibt ihnen Wurzeln...“). Vom Erziehen als einer ständigen Gratwanderung spricht auch Bernhard Bueb: „Mütter, Väter, Lehrer und Erzieher suchen nach der rechten Mitte zwischen Führen und Wachsenlassen, Gerechtigkeit und Güte, Disziplin und Liebe, Konsequenz und Fürsorge, Kontrolle und Vertrauen“, so der ehemalige Leiter des Vorzeige-Internats Salem. Die Gegenstimmen gegen zuviel „Laissez-faire“ in der Erziehung werden also seit Jahren lauter und gipfeln in Ratgeberbüchern mit bis vor wenigen Jahren undenkbaren Titeln wie „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ (Michael Winterhoff) oder „Der kleine Tyrann: Welchen Halt brauchen Kinder?“ (Jirina Prekop).

Bestrafungs-Kritiker schütten das Kind mit dem Bade aus

Obwohl es ganz ohne Regeln - die dann auch irgendwie durchgesetzt werden müssen - nicht zu gehen scheint, bleibt der Begriff Strafe aber ein Unwort. Er weckt offenbar zu viele negative Assoziationen. Dies wird deutlich, wenn sogar Erziehungsexperten Bestrafung unkritisch mit Misshandlung gleichsetzen. Paula Honkanen-Schoberth vom Deutschen Kinderschutzbund warnt im Buch „Starke Kinder brauchen starke Eltern“: „Wer mit Schlägen und Strafen erzogen wird, wird höchstwahrscheinlich selbst mit Gewalt auf andere reagieren“ und sagt: „Eine grundsätzlich strafende, misstrauische Haltung Kindern gegenüber macht das Leben für alle Beteiligten unerfreulich.“ Strafe wird gleichgesetzt mit Gewalt, Schlägen und Misstrauen. Ähnlich der Entwicklungsforscher Dr. Remo H. Largo („Babyjahre“): „Bestraft zu werden ist für das Kind nicht nur wegen des Schmerzes und der Demütigung abträglich. Mit zornigen Worten oder körperlicher Züchtigung geben ihm die Eltern zu verstehen: „So wie du bist, mögen wir dich nicht.“ Auch hier wird Strafe unkritisch verbunden mit Anschreien, Schlagen und Schmerz. Largo schränkt jedoch ein: „Bestrafungen können aber nie ganz vermieden werden. Selbst die erfahrensten Eltern kommen nicht ohne Strafen aus, und sei es auch nur, um das Kind vor Gefahren zu bewahren.“

Strafen und Liebe – ein Widerspruch?

Das Kind vor Gefahren zu schützen, ist auch für Bernhard Bueb eine der wichtigsten Aufgaben von Strafen. Bueb machte bei den Schülern die Beobachtung, dass Erklärungen und Aufklärungsfilme über Gefahren (wie ohne Helm Fahrrad zu fahren oder mit Feuer zu zündeln) so gut wie keine Wirkung zeitigten. Erst, als eine einwöchige Beurlaubung nach Hause eingeführt wurde, gab es kaum noch Verstöße gegen diese Regeln, weil kein Schüler gern ausgeschlossen wird. Eine Strafe, wie er sie versteht, hat mit Misshandlung oder Liebesentzug nichts zu tun: „Jede Art von körperlicher Züchtigung verletzt die Würde des Menschen. Liebesentzug ist eine gemeine und unpädagogische Strafe, sie ist unkonkret und Angst erzeugend. Eine solche Strafe kann nur jemand verhängen, der keine rechte Liebe hat“.

Zum Anderen seien Strafen notwendig, um im Alltag die Ordnung aufrecht zu erhalten, wenn also ein Kind zum Beispiel die Schule schwänzt, raucht, im Haushalt seine übernommene Aufgabe nicht erfüllt. Es sei unnötig zeitraubend, solche „Ordnungsprobleme des Alltags“ mit Kindern ständig aufs Neue zu diskutieren. Vermeide man dies, sei mehr Zeit, um mit dem Nachwuchs diejenigen Fragen zu besprechen, für die es tatsächlich keine festen Regeln geben könne. Zum Beispiel, ob der Jugendliche auf eine Party gehen darf, wo Alkohol angeboten wird, und ob er dort übernachten darf. Eine Bestrafung könne überdies auch entlastend wirken, so der ehemalige Schuldirektor: „Sie kann helfen, den Schaden wieder gut zu machen und Schuldgefühle zu verarbeiten.“ Strafen seien auch kein Widerspruch zu einer Erziehung zu möglichst viel Eigenverantwortung. Kinder, so Bueb in seiner Streitschrift, sollten immer soviel Verantwortung wie möglich erhalten, Erwachsene sollten ihnen nicht nur Dinge zutrauen, sondern ihnen auch vertrauen.

Strafen sind blind

So einleuchtend Buebs Argumente zum Teil sind, einige wichtige Dinge kommen hier zu kurz: So wird nicht danach gefragt, warum ein Kind sich so verhält, wie es das tut. Manche Kinder senden mit störendem, widerspenstigem oder aggressiven Verhalten Notsignale, die beachtet werden müssen. Hier nur zu strafen, geht an den Ursachen vorbei und verbaut Eltern die Chance, ungünstige Entwicklungen innerhalb der Familie zu erkennen. „Man muss in jeder schwierigen Situation schauen, warum sich das Kind so verhalten muss, wie es das tut,“ betont auch Familientherapeutin Ursula Neumann. Kinder, die durch „anstrengendes“ Verhalten den Familienalltag stören, wollen manchmal damit nur sagen: „Verbringe bitte mehr Zeit mit mir, traue mir mehr zu, sieh mich wirklich an, schimpf’ nicht soviel und lobe mich auch mal.“

Keine Strafen für kleine Kinder

Was Bueb außerdem kaum berücksichtigt, ist das Alter des Kindes. Je jünger aber ein Kind ist, desto weniger kann es sein Verhalten kontrollieren. Kinderarzt Dr. Rüdiger Posth betont, dass ein Kind erst mit vier bis fünf Jahren verstehe, was Erwachsene beispielsweise mit „Rücksichtnahme“ meinten. Wenn aber ein kleines Kind noch keinen Fehler erkennen könne, könne es auch Schimpfen und Strafe nicht verstehen. „Der Effekt: es würde sich nur abgelehnt und abgewertet erleben“, warnt der Entwicklungsfachmann. Besser sei es, man „erklärt dem Kind seine Gründe und stelle mit ihm gemeinsam Regeln auf, an die das Kind lernt sich zu halten. Das geht nicht ohne Konflikt ab, aber eine geduldige Belehrung und ein Aufzeigen sinnvoller Konsequenzen zeigen dem Kind, dass es von seinen Eltern respektiert wird“, so Posth.

Welche Konsequenz aber ist die richtige?

Da ist es nun doch wieder, das Wort „Konsequenz“. Wie man denn für jede Situation eine wirklich sinnvolle Konsequenz findet, darüber schweigen sich die Bestrafungsgegner unter den Erziehungsexperten aus oder umgehen diese Frage elegant durch Ratschläge, die Strafen im Vorfeld überflüssig machen sollen. „Der Trick besteht einfach (!) darin, nicht nachzugeben“ erklärt Steve Biddulph („Das Geheimnis glücklicher Kinder“) seinen Lesern gutgelaunt und rät: „Wenn Kinder nicht gehorchen, wiederholen Sie Ihre Anweisung!“ Viele Eltern wissen aber längst: Wiederholungen stören Kinder kaum, sie können davon unzählige zum einen Ohr hinein und zum anderen hinauswehen lassen.

Wer also zu dem Schluss gekommen ist, dass sein Kind vom Alter her schon wissen konnte, dass es etwas falsch macht (und dass es überdies kein Notsignal senden wollte), greift meist doch zu den üblichen Mitteln: Es gibt eine angedrohte Konsequenz oder eine „Auszeit“. Bernhard Bueb verwendet beschönigende Begriffe gar nicht erst, sondern sagt deutlich: „Wer gerecht erziehen will, muss bereit sein zu strafen.“ Eine Strafe sei zum Beispiel „mehr arbeiten zu müssen, sich körperlich oder geistig anzustrengen oder die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt zu bekommen.“

Damit eine Strafe gerecht und auch wirksam sei, müsse dem Kind aber vorher mitgeteilt werden, was als Konsequenz eintritt, wenn eine Regel gebrochen wird. Zum Anderen müsse diese Konsequenz dann auch zuverlässig folgen. Bueb befürwortet dabei Strafen, die einen Sinnzusammenhang mit dem „Vergehen“ haben: Wer sich am Tisch daneben benimmt, muss hinterher beim Abräumen oder dem Abwasch helfen. Wer unerlaubt fernsieht, bekommt seine Lieblingssendung gestrichen.

Flexibilität wird Wirklichkeit am ehesten gerecht

Die meisten Eltern sind zwar verunsichert, was sie bei Regelverstößen des Nachwuchses tun sollen. Sie reagieren aber dadurch auch flexibel auf jede Situation, was der Wirklichkeit vielleicht besser gerecht wird als allzu starre Rezepte. Sonja M. (42) aus Karlsruhe, Mutter zweier Kinder, erzählt: „Wenn Lisa oder Nils etwas angestellt haben, versuche ich zuerst, eine ‚logische Folge’ zu finden. Wer herumgematscht hat, muss einen Lappen holen und aufwischen.“ Gibt es aber keine logische Folge, greift sie auch zu Verboten: „Als Nils kürzlich seine neue Schultasche bemalt hat, fiel seine Lieblingssendung ‚Wissen macht Ah’ aus.“ Wenn die Situation es erlaubt, findet sie es aber eigentlich noch besser, wenn die Kinder durch eine eigene Leistung den Fehler wieder gut machen, „mir zum Beispiel im Haushalt bei etwas mithelfen und sich so für unsere Familie einsetzen. Das wirkt ja auch entlastend aufs Kind, es hat seinen Fehler ausgebügelt und bekommt ihn nicht nachgetragen.“

Auch in der Welt der Erwachsenen geht es nicht ohne Strafe

Wem das Bauchweh zum Thema Bestrafungen geblieben ist, der muss bedenken, dass auch in der Erwachsenenwelt Strafen als selbstverständlich und notwendig akzeptiert sind: Wer von seinem kleinen Gehalt ehrlich seine Steuern zahlt, gönnt dem reichen Vorstandsvorsitzenden, der im großen Stile Hunderttausende an Steuern hinterzogen hat, seine Strafe meist von Herzen. Und wer Kinder hat, wünscht sich, dass der Raser, der mit 60 Sachen durch eine verkehrsberuhigte Zone fährt, eine satte Strafe erhält. Wenn die Kindheit eine adäquate Vorbereitung auf das Leben in der Welt der Erwachsenen sein soll, kommt man um das Nachdenken über solche Bezüge nicht herum.

Zum Weiterlesen:

Bernhard Bueb: „Lob der Disziplin – Eine Streitschrift“, ullstein Taschenbuch 2009, ISBN 9783548369303.

*Rudolf Dreikurs: Kinder lernen aus den Folgen“, Herder Taschenbuch, ISBN-13: 978-3451048845.