Extrem Frühgeborene

Sehr kleine Frühchen und ihr Kampf ins Leben

Eine Frühgeburt, besonders von sehr kleinen Frühchen, wirbelt das Leben von Familien gehörig durcheinander – auch noch lange nach der Krankenhauszeit. Obwohl die Überlebenschancen immer besser werden, müssen Eltern von extrem Frühgeborenen oft an vielen Fronten um die gesunde Entwicklung ihres Kindes kämpfen.

Autor: Susanne Kailitz

Völlig verkabelt im Inkubator

Fruechen beatmet
Foto: © iStockphoto.com/ matthew_hull

Am Tag ihrer Geburt wollte im Krankenhaus niemand eine Prognose abgeben, wie lange das kleine Mädchen wohl auf dieser Welt bleiben würde. 340 Gramm wog Anna an diesem Tag im Sommer 2010 und war winzige 26 Zentimeter groß - viel zu klein und zu schwach, um ohne Hilfe überleben zu können. „Vor der Geburt hatten uns die Ärzte gesagt, dass Anna mit einem Geburtsgewicht von unter 400 Gramm statistisch gesehen nicht überlebensfähig sei“, erinnert sich ihre Mutter Nathalie Dahm*, „und um ehrlich zu sein haben wir damals alle nicht geglaubt, dass unsere Kleine es schaffen würde.“ Doch auch im Mutterleib hätte Anna nicht bleiben können. Weil sich bei einer Vorsorgeuntersuchung gezeigt hatte, dass das Mädchen nicht mehr versorgt wurde, entschieden die Ärzte in der 25. Schwangerschaftswoche, sie zu holen.

Eine Hiobsbotschaft nach der anderen

Auch Familie Berndt musste im Dezember 2007 begreifen, dass ihr kleiner Sohn, dessen Geburtstermin eigentlich für Ostern ausgerechnet war, schon kurz vor Weihnachten auf die Welt kam. Nach einer Routineuntersuchung musste es plötzlich ganz schnell gehen: Transport ins Krankenhaus, Kaiserschnitt, Intensivstation. Und die übergroße Angst, dass das Baby, das nur knapp 1.000 Gramm wog, sterben könnte: Fabian ging es nach seinem Frühstart alles andere als gut. Er musste beatmet werden, bekam eine Infektion und eine Gehirnblutung. Nach all dem stand schließlich eine schwere Operation an, weil sein Gehirnwasser nicht richtig abfloss. Niemand wusste, wie er sich entwickeln würde. „Das war eine Phase, in der wir eine Hiobsbotschaft nach der anderen bekamen“, erinnert sich Fabians Vater Marc. Seine Frau Sabine kämpft noch heute mit den Tränen, als sie von Fabians ersten Wochen erzählt. „Wie man sich fühlt, wenn das eigene Kind völlig verkabelt im Inkubator liegt und man nichts machen kann, das kann kaum jemand nachvollziehen“, sagt sie. „So etwas versteht nur, wer das Gleiche durchgemacht hat.“ Wochenlang konnte sie nichts anderes tun, als am Inkubator zu sitzen, Fabians kleine Hände zu streicheln und zu hoffen, dass er stark genug sein würde, sich in sein Leben zu kämpfen.

Was die beiden Familien mitgemacht haben, ist wohl einer der schlimmsten Alpträume aller Eltern. Rund neun Prozent aller Kinder kommen in Deutschland vor der abgeschlossenen 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt und gelten damit als Frühgeburt. Doch während bei den so genannten späten Frühchen die Aussichten auf eine normale Entwicklung inzwischen sehr gut sind, gelten Kinder mit einem Geburtsgewicht von unter 1250 Gramm als Hochrisiko-Kinder. Sie überleben zwar in 80 Prozent aller Fälle, aber ein Drittel von ihnen behält Schäden zurück.

Unreife Organe und fehlende Körper-"Heizung"

Denn dass eine normale Schwangerschaft 40 Wochen dauert, ist für den Zustand der Kinder wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die winzigen Extremfrühchen sind nicht einfach nur klein und müssen draußen nur noch weiterwachsen. „Das Hauptproblem ist, dass bei einer Frühgeburt Organe mit der Arbeit beginnen müssen, die überhaupt noch nicht so weit sind“, erklärt Christoph Bührer, Leiter der Neonatologie an der Berliner Charité. „Während das Herz des Kindes schon von Beginn der Schwangerschaft an schlägt, reift die Lunge erst in den letzten Schwangerschaftswochen aus. Ist sie bei der Geburt noch nicht fertig, müssen wir mit Medikamenten nachhelfen und im schlimmsten Fall beatmen.“ Schwierig sei zudem, dass die körpereigene Heizung der Kinder noch nicht funktioniere: „Normalerweise sind Menschen die fettesten Landsäuger, die es gibt. Bei Frühgeborenen fehlt aber die Fettschicht unter der Haut, die termingeborene Kinder vor dem Auskühlen schützt.“ Deshalb müssten sie in exakt temperierte Inkubatoren verlegt werden, in denen die Umgebung des Mutterleibs so gut simuliert werde, wie es nur eben ginge. Doch manches könne eben nicht nachgestellt werden, sagt Bührer. „Wenn das Gehirn noch nicht so ausgereift ist, dass es den Atemantrieb verlässlich steuern kann, müssen wir mit Medikamenten nachhelfen. Und auch wenn wir die erste Nahrung noch über die Vene verabreichen können, müssen Magen und Darm schnell anfangen zu arbeiten.“ All das bedeute Stress für die Kinder - „und Stress wiederum setzt Hormone frei, die nicht gut für die Gehirnentwicklung sind.“

*Die Namen der hier zitierten Familien wurden von der Redaktion geändert

 

Entwicklung der Frühchen kaum vorherzusagen

Wie stark der Frühstart die Aussichten der Kinder beeinträchtigt, darüber wollen und können die Ärzte in den ersten Lebenswochen keine Prognosen abgeben. Denn das ist von Kind zu Kind höchst unterschiedlich: Während die kleine Anna „nur“ mit einer zu schwachen Lunge und einer daraus resultierenden Mehrbelastung des Herzens zu kämpfen hat, muss Florian bis heute mit einem Shunt leben, der den Abfluss der Liquorflüssigkeit aus seinem Gehirn regelt. Bis heute ruft jede Übelkeit bei seinen Eltern die Angst hervor, der kleine Schlauch könnte verstopft oder verschoben sein, was einen neuen Eingriff nötig machen würde. Und trotz aller Sorgen sind Florians und Annas Eltern der Überzeugung, dass sie noch Glück gehabt haben: Weil ihre Kinder weder gefährliche Darmentzündungen oder eine lebensgefährliche Sepsis bekommen haben, die andere Extremfrühchen das Leben kosten.

Alle Pläne über den Haufen geworfen

Dennoch waren die Belastungen vor allem im ersten Jahr immens: Fünf Monate musste Fabian im Krankenhaus bleiben, sechs waren es bei Anna. Nach Hause gingen die Familien mit Überwachungsmonitor und Sauerstoffgerät, nachdem man ihnen in der Klinik erklärt hatte, wie sie im Notfall ihre Kinder wiederbeleben müssten. Die Pläne, die sie während der Schwangerschaft über ihr Familienleben geschmiedet hatten, waren ebenso hinfällig wie der Wunsch von Sabine Berndt, schnell wieder arbeiten zu gehen. Wie geplant nach einem Jahr wieder in den Job einzusteigen, war für die Krankenschwester unmöglich. „Es war ja sofort klar, dass Fabian ganz besondere Förderung brauchen würde. Fremdbetreuung kam da gar nicht in Frage.“ Mehr als zwei Jahre blieb Sabine Berndt daheim, um sich um ihren Sohn zu kümmern. Er braucht bis heute eine intensivere Betreuung als gleichaltrige Kinder. „Geistig ist er total fit, er kann prima sprechen. Aber er hat jetzt erst krabbeln gelernt und es wird noch eine ganze Weile dauern, bis er laufen kann“, erklärt Vater Marc. Der Rollator im Wohnzimmer soll Florian dabei helfen, außerdem bekommt er eine intensive Physiotherapie. Florians Eltern sind glücklich, dass sie inzwischen eine Tagesmutter gefunden haben, die sich den Umgang mit dem Frühchen zutraut.

Viel, viel Geduld

Das Leben mit Frühchen bringt andere Wegmarken als jene, über die in den üblichen Babybüchern geschrieben wird. Wenn sich beim Baby-Treff andere Mütter darüber freuen, dass ihre Kinder mit sieben Monaten zu krabbeln beginnen, ist Nathalie Dahm froh darüber, dass Anna mit gut vierzehn Monaten nun auch sitzen kann. „Man braucht viel, viel Geduld“, sagt sie, „und darf sich einfach nicht davon verrückt machen lassen, dass sie dieses oder jenes noch nicht kann. Ich sehe die kleinen Dinge, die sie schafft - und für uns ist das etwas ganz Großes.“ Groß ist auch die Freude darüber, dass in das Familienleben inzwischen so etwas wie Normalität eingezogen ist. Sechs Monate lang hatte Annas Familie Hilfe durch einen Familienpflegedienst, weil Nathalie Dahm es einfach nicht geschafft hätte, sich um Anna und ihre beiden größeren Brüder zu kümmern. Dass das jetzt geht, macht sie froh.

Auch Fabians Eltern haben einen weiten Weg hinter sich - auf dem sie viel lernen mussten. Denn zu den Sorgen um ihren kleinen Sohn kamen auch viele Dinge, mit denen sie nie gerechnet hätten. Wenn das Kind, auf das man sich so gefreut hat, so viel zu früh kommt, ist man im Ausnahmezustand“, sagt seine Mutter. „Da geht es ums Überleben. Kaum jemand kümmert sich um Ansprüche, die er eigentlich hätte – etwa die Erstattung von Fahrtkosten ins Krankenhaus oder die Möglichkeit, eine Pflegestufe zu beantragen. Es kommt ja auch keiner, der einem erklären würde, welche Hilfsangebote es eigentlich gibt.“ Um anderen betroffenen Eltern in dieser Lage besser helfen zu können, engagieren sie sich in der Elterninitiative ihrer Klinik, wollen jetzt auch einen Verein gründen.

Kliniken beraten

Die Hilfe in praktischen Belangen ist es, die für viele Frühcheneltern bislang zu kurz kommt. Das sieht auch der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“, der sich stetig für eine noch bessere Versorgung Frühgeborener und ihrer Eltern einsetzt. Barbara Grieb, Leiterin der Frankfurter Geschäftsstelle des Verbandes, rät den Eltern, sich schnell Unterstützung zu suchen: „Viele Kliniken bieten eine psychosoziale Elternberatung, die die Eltern auf das vorbereitet, was nach einer Frühgeburt auf sie zukommt. Sie haben natürlich auch Anspruch auf Unterstützung durch eine Hebamme; viele Sozial- und Jugendämter bieten auch eine Familienhilfe an. Leider erleben wir aber auch immer noch, dass Sachbearbeiter bei den Krankenkassen, die über die Besonderheiten von Frühgeborenen nicht informiert sind, allzu schnell Anträge ablehnen. Aber Eltern, die um das Leben ihres Kindes bangen, haben oft nicht die Energie, dagegen anzugehen.“

Es hat sich gelohnt

Woher sie die Kraft hatten, mit dem Frühstart ihrer Kinder umzugehen, wissen die Eltern von Anna und Fabian selbst nicht so genau - nur, dass der Kampf sich gelohnt hat. die Berndts bereiten gerade mit ihrer Elterngruppe ein Fest vor, bei dem rund 300 Frühchenfamilien zusammenkommen werden, um sich auszutauschen. Auch Fabian wird dabei sein und mit seinem breiten Grinsen vielleicht anderen frischgebackenen Frühcheneltern Mut für die schwere Zeit machen, die vor ihnen liegt. Denn so schwierig sein Start auch war, so wenig würden seine Eltern mit „normalen“ Eltern tauschen wollen: „Wir würden ihn um nichts in der Welt mehr hergeben. Fabian ist unser Kind – einzigartig und kostbar.“