Spina Bifida: Was kommt auf Eltern und Kind zu?

Offener Rücken beim Baby

Spina Bifida bedeutet etwa so viel wie „gespaltener Wirbel“, bekannter ist die Erkrankung als „offener Rücken“. Der Defekt an der Wirbelsäule entsteht bereits zu Beginn der Schwangerschaft und kann vielfältige Auswirkungen haben. Welche Ursachen gibt es? Welche Behandlungen und Hilfen sind möglich?

Autor: Kathrin Wittwer

Wenn sich das Neuralrohr nicht schließt

Baby Arzt Untersuchung
Foto: © fotolia.com/ S.Kobold

Schon ganz früh in der Schwangerschaft, etwa ab der dritten Woche nach der Empfängnis, entsteht beim Embryo das Neuralrohr, der Vorläufer von Gehirn und Rückenmark. Im Laufe seiner Entwicklung wird das Rückenmark gut geschützt in den Wirbelkanal der Wirbelsäule eingebettet. Gibt es bei diesem Prozess Probleme, wird das Neuralrohr unter Umständen nicht komplett geschlossen und es verbleiben offene Stellen. Spina Bifida, „Wirbelspalt“, nennt man diese Defekte. Weil das Rückenmark hier frei liegt, aus seinem Kanal austreten und sichtbare Wölbungen bilden kann und in manchen Fällen nicht einmal mehr von Haut überzogen wird, hat sich synonym die Bezeichnung „offener Rücken“ verbreitet.

Diagnose im normalen Vorsorgeultraschall

Die Diagnose Spina Bifida wird bei fast allen betroffenen Kindern vorgeburtlich gestellt, in der Regel um die 20. Schwangerschaftswoche beim normalen Vorsorgeultraschall zur Wachstums- und Gewichtsmessung. „Reykja“* erfuhr bei der Feindiagnostik von der Besonderheit ihrer Tochter. Der Begriff war ihr zwar bekannt, klare Vorstellungen davon, was er tatsächlich umfasst, hatte sie jedoch nicht. „Der Arzt hat es sehr vorsichtig erklärt und versucht mich zu beraten“, erinnert sie sich.

Mögliche Folgen der Spina Bifida: minimal bis weitreichend

Die werdenden Eltern erfahren in diesen Gesprächen, dass Spina Bifida weit mehr ist als ein kosmetisches Problem: Ungeschützt und damit beeinträchtigt von äußeren Einflüssen, können die Nervenfasern des Rückenmarks ihre Aufgabe, für die reibungslose Kommunikation zwischen Hirn, Organen, Muskulatur und Haut zu sorgen, nicht mehr erfüllen. „Typischerweise ist dann meist die Beweglichkeit der Beine eingeschränkt oder sogar aufgehoben, es zeigen sich Entleerungsstörungen der Blase und des Enddarms, die Nieren können im weiteren Verlauf des Lebens durch Urinrückstau und wiederholte Infektionen geschädigt werden. Außerdem fließt das Hirnwasser nicht normal über das Rückenmark ab, so dass in den meisten Fällen ein Hydrocephalus, ein sogenannter Wasserkopf, entsteht“, erklärt Dr. Christian Clemen, Oberarzt der Kinderchirurgie am Klinikum Dortmund, seit 15 Jahren beruflich mit der Erkrankung vertraut und seit drei Jahren Vater einer Tochter mit Spina Bifida. „Man muss aber wissen, dass die Spina Bifida ein sehr vielschichtiges Krankheitsbild ist.“ Je nachdem, an welcher Stelle der Wirbelsäule sich der Defekt befindet und wie ausgeprägt er ist, kann er einerseits kaum bemerkbar sein, andererseits bis hin zu Querschnittslähmungen und geistiger Behinderung weitreichende Auswirkungen haben.

Behandlungen: OP, Shunt, orthopädische Hilfsmittel, OP vor der Geburt

„Was genau davon eintreffen wird, können wir vor der Geburt nicht prognostizieren“, so Dr. Clemen. „Deshalb werden die Schwangeren über alle denkbaren Verläufe, aber auch zu den Möglichkeiten der Medizin aufgeklärt.“ Dazu gehört unter anderem, dass

  • in der weiteren Schwangerschaft regelmäßige Untersuchungen beim Gynäkologen und Pränataldiagnostiker anstehen
  • das Kind mittels Kaiserschnitt geboren werden wird, um es keinen unnötigen Infektionsrisiken oder weiteren Verletzungen am Rückenmark auszusetzen
  • das Baby aus dem gleichen Grund nach der Geburt umgehend operiert wird, um das frei liegende Rückenmark mit den empfindlichen Nervenfasern zu verschließen
  • später vielleicht ein Katheter (= Shunt) vom Kopf in den Bauchraum gelegt werden muss, damit sich das Hirnwasser nicht staut

Ebenso müssen sich Eltern auf zahlreiche Nachuntersuchungen einstellen, auf weitere Krankenhausaufenthalte, regelmäßige Physiotherapie, vielleicht orthopädische Eingriffe oder Hilfsmittel wie sogenannte Unterschenkelorthesen, mit denen Dr. Clemens Tochter laufen lernte und inzwischen selbstständig Treppen steigen kann, oder einen Rollstuhl, wie ihn Reykjas Tochter aufgrund ihrer Lähmung ab Bauchnabel abwärts benötigt.

Neue Alternative: eine Operation noch vor der Geburt

Alternativ zu der der bislang üblichen Vorgehensweise, den offenen Rücken nach der Geburt zu verschließen, können Eltern in Deutschland seit 2002 auch eine Operation ihres Kindes noch im Mutterleib erwägen. Diese zielt darauf ab, das Rückenmark schon in der Schwangerschaft vor schädigenden Einflüssen (wie dem im Fruchtwasser schwimmenden Stuhl des Babys oder Stößen an der Gebärmutterwand) zu schützen, so auch den Verlust von Hirnflüssigkeit zu verhindern und die bekannten Folgeprobleme für Kopf, Gehirn, Beine und andere Organe zu mindern.

„Mutter und Kind werden in Vollnarkose versetzt, dann führen wir durch den Bauch endoskopisch drei kleine Operationsröhrchen ein, durch die wir die Fehlbildung chirurgisch verschließen“, erklärt der Kinderarzt Prof. Dr. Thomas Kohl die Grundzüge des von ihm entwickelten Eingriffs, den er – als einer von derzeit nur zwei Ärzten weltweit – am Deutschen Zentrum für Fetalchirurgie und minimal-invasive Therapie (DZFT) des Rhön-Universitätsklinikums in Gießen praktiziert. „Unser Weg kommt in Frage, wenn a) die Mütter gesund und nicht stark übergewichtig sind und b) wir aufgrund der sonografischen Voruntersuchungen einen deutlichen Vorteil für das Kind absehen können.“ Der mehrstündige Eingriff – eine Krankenkassenleistung – findet zwischen der 21. und 27. Schwangerschaftswoche statt. Die Kinder kommen grundsätzlich per Kaiserschnitt auf die Welt, durchschnittlich in der 34. Woche. Insgesamt wurden in den letzten drei Jahren etwa 50 Kinder operiert.

Kritiker halten Risiken für zu hoch

Das Vorgehen ist unter Kinderchirurgen äußerst umstritten, auch Dr. Christian Clemen sieht es sehr kritisch: „Die Methode ist noch unausgereift und im experimentellen Stadium, es gibt hohe Risiken für Frühgeburtlichkeit mit all ihren Problemen.“ Über diese klärt Prof. Kohl offen auf, ergänzt aber, dass „der Eingriff inzwischen kein Experiment mehr ist und man realistische Angaben zu Chancen und Komplikationen machen kann.“ So steige mit steter Erfahrung und Verfeinerung der Methode ihr Nutzen für die Kinder – eine deutlich bessere Beinfunktion, weniger Shunt-Anlagen, oft keine OP mehr nach der Geburt –, während Komplikationen seltener auftreten.Gutachter und Elternberichte bestätigen dies.

Ursachen und Unterstützung

Reykja und ihrem Mann waren vor über drei Jahren die Risiken des Eingriffs noch zu hoch, wie Familie Clemen entschieden auch sie sich dagegen. Ebenso wenig kam für sie eine Abtreibung in Frage, wie sie in Deutschland laut Professor Kohl gut 80 Prozent der Eltern nach Spina Bifida-Diagnosen wählen; geboren werden jährlich etwa 200 bis 250 Kinder, sagt Dr. Clemen. „Wir haben uns stattdessen beim Humangenetiker, beim Neuropädiater, beim Neurochirurgen und, für uns außerordentlich hilfreich, bei der Diakonie beraten lassen“, so Reyjka. „Denn natürlich waren wir anfangs sehr geschockt, ungläubig, traurig, ängstlich. Und ganz lange wütend – wieso wir?! Wieso dürfen wir kein gesundes Kind bekommen?“

Die Ursachen von Spina Bifida sind nicht eindeutig geklärt

Ein medizinischer Grund lässt sich oft nicht ausmachen: „Es wird unter anderem angenommen, dass sich das Neuralrohr aufgrund von Umweltfaktoren oder durch die Einnahme bestimmter Medikamente, zum Beispiel gegen Epilepsie, nicht schließt. Auch genetische Ursachen kommen in Betracht, bisher aber ohne Beweise“, sagt Dr. Clemen. „Die Hauptvermutung ist ein Folsäuremangel. Das ist jedoch nur in maximal 30 Prozent der Fälle möglicherweise ursächlich“, weiß er – auch aus eigener Erfahrung: Seine zweite Tochter kam mit Spina Bifida zur Welt, obwohl seine Frau, eine Kinderärztin, schon vor der Schwangerschaft ausreichend  Folsäure einnahm, sich gesund ernährte und gesund lebte. „Zur Risikominimierung ist die regelmäßige Einnahme von Folsäure trotzdem sinnvoll“, betont Christian Clemen.

Vielfältige Hilfen und Unterstützungen möglich

Seit ihm die psychischen und häuslichen Belastungen eines Lebens mit Spina Bifida aus eigenem Erleben sehr bewusst sind, geht der Arzt in Gesprächen mit Eltern intensiv auch auf ihre vielen Fragen abseits der Medizin ein und kann aus erster Hand beraten: Zum Beispiel dazu, welche Hilfen man bekommt, vom Antrag auf Schwerbehindertenausweis beim Versorgungsamt über Pflegestufen bei der Krankenkasse bis hin zu steuerlichen Erleichterungen beim Finanzamt. Oder dazu, wie schwierig es für Geschwisterkinder sein kann, oft zurückstehen zu müssen und wie wichtig es ist, offen mit ihnen zu reden. Dazu, dass Spina Bifida-Kinder davon profitieren, in Integrations-Kitas schon früh mit normal gesunden Kindern in Kontakt zu kommen (und umgekehrt), und dass sie in Schulen von Integrationsbegleitern unterstützt werden können.

Mit fachkundigen Informationen helfen SPZ und ASBH weiter

Eltern, deren Ärzte sich damit nicht so gut auskennen, können sich in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) informieren oder, wie Reykja empfiehlt, Kontakt mit der Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e.V. (ASBH) aufnehmen, „entweder mit der örtlichen Selbsthilfegruppe oder im Internet unter www.sternchenforum.de. Dort bekommt man individuell und umgehend genau die Fragen beantwortet, die einen gerade beschäftigen.“

Reykjas Tochter ist inzwischen fast drei Jahre alt. Ihre eingeschränkte Beweglichkeit ist der einzige grundlegende Unterschied zu anderen Kindern, sagt ihre Mutter: „Sie ist ein sehr herzliches, aufgeschlossenes Mädchen mit genau den gleichen Interessen wie ihre Altersgenossen. Wir lieben sie sehr und sind sehr dankbar, dass wir sie haben. Wir wünschen uns für sie, dass sie ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führen wird.“

* „Reykja“ ist unter diesem Nickname über ihr urbia-Profil bei Fragen erreichbar, möchte ansonsten aber anonym bleiben.

Service

  • Die Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e.V. (ASBH) informiert unter www.asbh.de ausführlich über das Krankheitsbild. Hier kann man auch viele Broschüren wie den umfassenden „ASBH-Ratgeber Spina Bifida und Hydrocephalus“ inkl. CD oder ein Pflegetagebuch bestellen.
  • Einen lesenswerten Erfahrungsbericht schildert das Buch „Weil es dich gibt. Aufzeichnungen über das Leben mit meinem behinderten Kind“ von Gisela Hinsberger. Brandes & Apsel, Neuauflage 2014 (Hier beim Verlag bestellen)
  • Den Eingriff im Mutterleib wird auf der Homepage des Deutschen Zentrums für Fetalchirurgie & minimal-invasive Therapie vorgestellt.