Schade ich meinem Kind?

Darf ich mein Kind anschreien?

Hand aufs Herz, habt ihr euer Kind auch schon einmal angebrüllt? Und wurdet danach auch von Selbstvorwürfen geplagt? Wir fragen uns in diesem Artikel: Wie schlimm ist das Anbrüllen wirklich?

Autor: Gabriele Möller

Regelmäßiges Anschreien schadet dem Kind

Streit: Mutter schreit Tochter an
Foto: © iStock, pepifoto

Es geht ein Riss durch die Elternschaft: Manche finden, sein Kind anzuschreien könne nicht allzu schädlich sein. Schließlich sei es doch um Klassen besser, als es zu schlagen. Die Anderen finden, dass Anschreien ein No Go ist und haben Schuldgefühle, wenn es ihnen doch passiert. Doch welche Wirkung hat es tatsächlich auf Kinder, wenn die Eltern laut werden? Forscher der Universität Pennsylvania haben dazu fast 1.000 Kinder im Alter von 13 und 14 Jahren untersucht. Ergebnis: Wurden die Kinder in der Vergangenheit regelmäßig angeschrien, hatten sie jetzt häufig Schulprobleme oder zeigten depressive Symptome. Viele logen ihre Eltern auch auffallend oft an. Fazit der Forscher: Auch das Schreien ist schädlich, weil eine Form von Gewaltausübung. "Kritisch ist es besonders, wenn dabei herabwürdigende Ausdrücke wie: ,Du bist zu blöd!' fallen", betont auch der Viersener Kinderpsychiater Dr. Ingo Spitczok von Brisinski in einem Zeitungsinterview und erklärt, dass Kinder aus dem Anbrüllen nichts Konstruktives lernen könnten.

Anschreien in Ausnahmen kann die Familienatmosphäre reinigen

Eltern, die ihr Kind manchmal anbrüllen, müssen dennoch nicht in Schuldgefühlen versinken: Die Betonung der US-Studie liegt auf dem Wort "regelmäßig". Wenn Eltern nur selten der Kragen platzt, kann ein Kind dies verkraften. "Manchmal reinigt ein Gewitter auch die Luft. Es sollte aber eine Ausnahme sein", beruhigt auch Dr. Spitczok von Brisinski. Dass Eltern nicht durchgehend geduldig sein müssen, findet auch der Autor und Familientherapeut Jesper Juul, der auf die Frage "Darf man sein Kind anschreien?" einmal antwortete: "Ja. Darf man. Man darf ganz allgemein Mensch sein." Es sei aber wichtig, sich hinterher beim Kind zu entschuldigen. Ein Wutanfall kann sogar positive Aspekte haben. Die Psychologin Bettina Hertel erklärt: "Wut ist ein Tabu in der Erziehung, und Mütter fühlen sich häufig schuldig, wenn ihnen doch einmal der Kragen platzt. Wut ist aber auch ein Gefühl, das befreiend wirken kann. Wenn die Wut mich dazu bringt, endlich mal zu äußern, was mich seit Wochen stört, auszudrücken, was ich mich sonst nicht zu sagen traue", schreibt die Fachfrau auf der Site "Familienhandbuch" des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung.

Wie wir Eltern unserer Wut vorbeugen können

Wenn bei Eltern der Zorn überkocht, steckt also oft mehr dahinter als die Weigerung des Kindes, seine Regenjacke anzuziehen, oder der umgeworfene Apfelsaft, der vom Tisch herunterläuft. Vielmehr entlädt sich fast immer ein schon länger angestauter Frust. Und den kann man vermeiden:

  • Keine zu hohen Erwartungen haben: Oft erwarten Eltern von ihrem Kind Dinge, die es noch nicht leisten kann: dass es schon früh durchschläft, sich allein beschäftigt, nicht beim Essen matscht, sich nicht in Gefahr begibt, sich Regeln merkt. Doch Vieles davon können Kinder frühestens ab dem Kindergartenalter und auch nur allmählich lernen. Es entlastet, die Fähigkeiten des Nachwuchses nicht zu überschätzen.
  • Unnötige Machtkämpfe meiden: Es gibt Tage, da geht nichts von selbst, gegen alles hat das Kind Einwände. Das nervt und endet leicht in elterlichem Gebrüll. Wenn ein Kind in Machtkampf-Laune ist, heißt dies aber nicht, dass Eltern sich in dieselbe Stimmungslage begeben müssen. Sie dürfen verbale Attacken einfach mal überhören, einen Trotzanfall von selbst abebben lassen, oder bei weniger wichtigen Dingen auch mal nachgeben.
  • Nicht zuviel mit dem Kind allein sein: Vor allem Mütter sind oft für viele Stunden oder gar Tage allein mit dem Kind. So können sie kaum Kraft schöpfen. Wenn möglich, hilft es sehr, dem Partner (notfalls auch einem Babysitter) das Kind zu abgesprochenen Zeiten zu übergeben, um Zeit zum Durchatmen zu haben. Wichtig ist, dem Anderen dann aber auch zuzutrauen, dass er auf seine Weise genauso gut fürs Kind sorgt wie man selbst.
  • Dem Nachwuchs ein Nein zumuten: Viele Eltern lösen Konflikte mit ihrem Kleinkind, indem sie es ablenken und beschwichtigen. So lernen die Kleinen nicht, ein Nein zu akzeptieren und neigen zu endlosem Quengeln. Experten empfehlen, kleine Kinder nicht zu oft von Konflikten abzulenken, sondern sie das elterliche Nein auch mal aushalten zu lassen.
  • Weniger erklären und ermahnen: Kleine Kinder schalten bei langen Erklärungen einfach ab, weil sie sich noch nicht lange konzentrieren können. Besser sind klare, recht knappe Ansagen, die mehrmals wiederholt werden.
  • Gut auf sich selbst achten: Kein Baby gibt seinen Eltern von sich aus die Erlaubnis, sich auszuruhen. Mutter oder Vater müssen sich diese Erlaubnis selbst geben: "Ich dusche jetzt / trinke jetzt einen Kaffee, gleich bin ich wieder für dich da." Selbst wenn ein Baby weinend protestiert, darf dies für einige Minuten einfach mal sein. Gut auf sich zu achten kann auch heißen, nicht mehr zu stillen, wenn man das eigentlich nicht mehr möchte. Oder wieder arbeiten zu gehen, wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und das Kind in eine gute Betreuung zu geben.
  • Nicht für jedes Gefühl des Kindes verantwortlich sein: Viele Eltern glauben, wenn sie alles richtig machten, gehe es ihrem Kind ununterbrochen gut. Weint das Kind oft oder wirkt unzufrieden, fühlen sie sich schlecht - offenbar machen sie irgendetwas falsch. Dieses Gefühl frustriert und macht irgendwann auch wütend. Doch auch kleine Kinder haben gute Tage und schlechte. Eltern dürfen über Stimmungstiefs und Unleidlichkeit auch mal hinwegsehen, ohne sie persönlich zu nehmen.

Erste Hilfe beim elterlichen Wutanfall

Die Ursachenforschung ist gut geeignet, um zukünftigen Brüllattacken vorzubeugen. Im Akutfall aber, wenn Mütter oder Väter also merken, dass sie gleich anfangen werden zu brüllen, hilft nur eine schnelle Erste Hilfe:

  • Nix wie weg! Aus dem Raum gehen, Abstand gewinnen: Das Kind einige Minuten schreien oder toben lassen und in der Küche eine Tasse Kaffee trinken. Notfalls im Nebenraum die Wand anschreien, anstelle des Kindes. Oder das Kind in den Buggy packen und erst einmal eine Runde um den Block drehen, bis beide sich abgekühlt haben.
  • Kissenschlacht "for One" - Einen weichen Gegenstand in die Zimmerecke schmeißen, eine Kissenschlacht mit dem Sofa veranstalten, das Kind dabei aber nicht ansehen oder direkt anschreien.
  • Durchatmen - Sauerstoff kühlt die Wut ab! Auch wenn man sich nicht vorstellen kann, dass es wirklich hilft: sich ans offene Fenster stellen 20 mal ein- und ausatmen. Stresshormone erschweren klares Denken, Sauerstoff dagegen fördert Fähigkeit des Gehirns, ruhig und überlegt zu handeln. Danach hat sich der innere Dampfdruckkessel fast immer abgekühlt.
  • Umarmen statt Schreien - Besonders gut hilft eine paradoxe Reaktion: das Kind zu umarmen, zu knuddeln und zu kitzeln. Berührung, erklären Psychologen, löst Spannungen und wirkt bei Groß und Klein erstaunlich gut. Auch Humor wendet die Stimmung zum Guten: Fast jedes Drama mit Kind enthält auch einen Funken Situationskomik - wer den entdeckt, hat den Kampf mit der Wut schon gewonnen.
  • Nicht das Kind, sondern das Verhalten beschimpfen - Wenn Eltern es dennoch nicht mehr schaffen, den Wutanfall zu bremsen, sollten sie die Wut neutral herausschreien, also ohne Adressaten: "Ich platz' gleich! Ich könnte die Wände hochgehen!" und das Kind dabei möglichst nicht ansehen.

Wenn Eltern zu oft schreien

Bei manchen Erwachsenen triggert der Alltag mit Kind immer wieder alte Gefühle aus der eigenen Kindheit. Dann reagieren sie oft unkontrolliert, obwohl sie das gar nicht wollen. Manchmal haben Mütter oder Väter aber auch einfach die eigenen Bedürfnisse zu lange nicht wahrnehmen dürfen und fühlen sich chronisch ungesehen, übergangen, überlastet oder ungerecht behandelt. Und manchmal scheint das Kind Eigenschaften zu haben, die man an sich selbst (oder auch am Partner, der eigenen Mutter etc.) nicht mag.

In all diesen Fällen kann es passieren, dass Eltern zu oft von der Wut überwältigt werden. Sie sollten sich ohne Scheu Hilfe suchen: Schon eine Erziehungsberatung kann heikle Situation im Alltag entschärfen helfen. Ergeben sich Hinweise auf tiefer sitzende Konflikte bei den Eltern, erhalten sie auch Tipps, wo sie weitere Hilfe bekommen. Kostenlose Erziehungsberatung bieten z. B. die Caritas, die Diakonie und der Kinderschutzbund an.